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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Robert Hartmanns "Schwarzes Gold. Auf den Spuren der afrikanischen Läufer" ist 1979 in der von Manfred Steffny herausgegebenen Edition Spiridon erschienen. Der Autor ist Läufer, Journalist und Ostafrika-Kenner und war damals schon mit einigen ostafrikanischen Läufern persönlich bekannt oder befreundet (einmal findet er nach einem Besuch in einem Dorf Ziegenfleisch in seinem Kofferraum. Es ist Tradition der Kalenjin, dem Gast heimlich eine Wegzehrung zuzustecken.) Besonders interessiert mich der Perspektivwechsel (in beide Richtungen) bei der Begegnung mit dem Fremden, wenn der Autor in Afrika von einem Dorflehrer auf seine beiden Fotoapparate angesprochen wird: "Wieviel besitzt du davon?" "Zwei." "Wenn du zwei besitzt, kannst du mir doch einen schenken." Wenn der mehrfache Weltrekordler Henry Rono sich bei einem Besuch in Frankfurt vorsorglich erkundigt "wie es mit den wilden Tieren in der hiesigen Gegend bestellt sei." (Henry Rono, der 1978 in drei Monaten vier Weltrekorde gebrochen hat, fiel noch durch eine markante Zahnlücke im Unterkiefer auf, ein Erkennungszeichen der Nandi, des Stamms, aus dem bis heute die meisten kenianischen Weltklasseläufer kommen. Die Schneidezähne wurden entfernt, um im Krankheitsfall, bei Kinnbackenkrämpfen, den Patienten ernähren zu können.) Wenn jemand den Autor fragt: "Arbeiten die Europäer im Winter? Weshalb ziehen sie denn nicht fort, dorthin, wo es wärmer ist?" Oder wenn es über Horoskope in der Zeitung heißt: "Bei diesen Horoskopen handelte es sich um uralte, die lange vorher schon in englischen Blättern veröffentlicht worden waren und nun hier kostenlos nachgedruckt würden." Der Weltklasseläufer Mike Boit erzählt dem Autor, daß er 1972 in einem Münchner Kaufhaus von der Rolltreppe eingeschüchtert war und fünf Minuten nur die Leute beobachtete, die sich ihrer ohne zu zögern bedienten. Bei der Fahrt über die Dörfer in Boits Mercedes wird Hartmann überall von Kindern angestarrt. "Manche Kinder sehen die Europäer nur in ihren Autos sitzen, sie sehen nur ihre Köpfe, denn keiner steigt aus", erfährt er. Boit sagt, kein Kind nehme es ihnen ab, daß er der Besitzer des Mercedes sei. "Wenn ich selbst fahre, sagen sie: 'Aha, er ist der Fahrer'. Sitze ich auf dem Beifahrersitz, sagen sie: 'Aha, er darf mit seinem bwana fahren'."
Die Namen der kenianischen Läufer, die man in Variationen immer wieder hört (einer der ersten international erfolgreichen Läufer war Kipchoge Keino, Olympiasieger von 1968 in Mexiko und 1972 in München; der im Moment erfolgreichste Marathonläufer ist Eliud Kipchoge) haben eine Bedeutung: Rono ("geboren in der Stunde, wenn die Ziegen nach Hause getrieben werden"), Keino ("geboren in der Stunde, wenn die Ziegen gemolken werden"), Kipchoge ("der Junge, der in der Nähe des Krämerladens geboren wurde"). Wenn ein Junge Chep hieß, also "Mädchen", war es ein Täuschungsmanöver, weil bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Stämmen nur die Mitglieder des männlichen Geschlechts getötet werden durften.
Allen Läufern ist gemeinsam, daß sie ihre Kindheit barfuß verbracht haben (in der zweiten Fußball-Liga spielte damals noch die Hälfte der Mannschaften barfuß), und daß sie zu Fuß zur Schule, zum Holz- und zum Wasserholen gegangen bzw. gerannt sind. Boit sagt: "Es ist ein großer Vorteil, wenn die Schule so weit entfernt ist. Dann läßt man es nämlich auf die letzte Minute ankommen und holt den Zeitverlust auf dem Schulweg wieder ein." Diesen Vorsprung bei der Stärkung der Fußgewölbe und der Entwicklung der Muskulatur, insbesondere der der Füße, holen Europäer nie wieder auf. (Auch nicht durch die bei uns jährlich stattfindenden "Aktionstage zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten". Wie komisch muß unsere Lebensweise für Afrikaner manchmal sein.)
In vielen Laufbüchern und in einigen Dokumentationen wird dem "Geheimnis" des kenianischen Laufwunders nachgespürt. Ist es ein Getränk aus mit Blut vermischter Milch? Sind es die besonders schmalen Waden der Läufer? (Geringes distalisches Gewicht.) Der Ugali-Maisbrei? (Der sich, wie Hartmann beobachtet, auch gut zum Befestigen von Fotos an den Wänden der Hütten eignet.) Die Armut? (Aus der kaum Wege führen, einer davon ist Laufen.) Eine genetische Disposition? Eine besonders kreative Theorie besagt, daß die mutigsten Nandi-Krieger früher ritualhaft Viehdiebstahl betrieben und dafür hunderte Kilometer weit zu Fuß gingen. Der Diebstahl war nicht ehrenrührig, aber lebensgefährlich. Wer Erfolg hatte, konnte zu Hause mehrere Frauen nehmen und seine Gene verbreiten. Manche sagen, daß das Ausschwärmen kenianischer Läufer zu Städtemarathons in aller Welt, um dort Preisgelder zu gewinnen, eine moderne Form so eines Initiationsrituals sei. (Bei uns wird ihnen das von manchen als Geldgier ausgelegt, was absurd ist, wenn man sich die ökonomische Schieflage zwischen Europa und Afrika ansieht.)
Tatsache ist, daß durch die Lebensweise in Afrika, wenn man von Krieg, Alkoholismus und Infektionskrankheiten absieht, eine ganze Reihe Zivilisationskrankheiten gar nicht erst auftreten. Angeblich sind Herzkrankheiten, Lungen- und Dickdarmkrebs, Zuckerkrankheit, Venenerkrankungen, Blinddarmkrebs- und entzündung, Hämorrhoiden, Gallensteine, Thrombosen, Embolien, Zahnfäule, Fettsucht dort unbekannt (außer bei Politikern und Funktionären, die sich der westlichen Lebensweise annähern.)
"Der erste Lungenkrebstote in Uganda war der Pförtner des Gouverneurspalastes. Er hatte die Zigarettenstummel geraucht, welche die Besucher zurückließen, sobald sie in die Amtszimmer gebeten wurden."
Ob das wahr ist oder eine Projektion, kann ich nicht beurteilen, man möchte es aber gerne glauben, weil es ja hoffnungsvoll stimmt, wenn eine einfachere Lebensweise, die näher an unseren Ursprüngen ist, so viele Probleme auf einmal lösen kann.
Eine Antwort auf die immer noch offene Frage, warum es in den 60er und 70er Jahren in der westlichen Hemisphäre zu einem so explosionsartigen wie nachhaltigen Laufboom gekommen ist, könnte heißen, daß wir noch nie so ungesund und im Widerspruch zu unseren körperlichen Bedürfnissen und Voraussetzungen gelebt haben wie heute, wo wir uns einbilden, ein hocheffizientes Gesundheitssystem zu haben, dem wir u.a. unsere hohe Lebenserwartung verdanken. In Wirklichkeit macht uns die Art, wie wir leben, arbeiten, uns ernähren, uns bewegen, unsere Freizeit verbringen, krank (durch Smartphones und digitale Medien dürfte sich die Lage noch einmal bedeutend verschlechtert haben). Die Zuflucht zum Joggen könnte nichts anderes gewesen sein, als der Versuch, seelisch und körperlich zu überleben.
Wenn man heute in die Weltspitze will, muß man in Kenia oder Äthiopien trainieren (hier sieht man ein Gruppen-Warmup in Äthiopien, das ich wahrscheinlich schon gar nicht durchhalten würde), wo die Leistungsdichte am größten ist und Trainingseinheiten den Charakter von Wettkämpfen haben können. Aber auch ambitionierte Freizeitläufer leben dort in Laufcamps, die professionell betrieben werden.
In diesem Film sieht man den französischen Mittelstreckenläufer Bob Tahri beim Training im Lauf-Mekka Iten in 2500 m Höhe. Ein bißchen mehr als üblich bekommt man mit von der Dynamik in so einer Laufgruppe, in der man sich Respekt erst verdienen muß, vor allem als Weißer. Tahri gelingt das, weil er alle Einheiten mitmacht, normalerweise lassen viele Europäer das dritte tägliche Training gerne ausfallen. Tahri ist von Anfang an begeistert vom Stellenwert, den das Laufen in Kenia genießt, wo jeder zu laufen scheint. Es kommt vor, daß ein Mann in Alltagskleidung, der am Straßenrand stand oder Ziegen hütete, eine Weile mit der Gruppe mitläuft, einfach aus Freude an der Bewegung.
Eine der zentralen Figuren des kenianischen Laufens, die uns schon in Adharanand Finns Buch begegnet ist, ist der irische Mönch Brother Colm, ein Selfmade-Trainer, der seit Jahrzehnten an der St. Patrick's High School in Iten arbeitet und dort zahllose Weltklasseläufer betreut hat, aktuell den 800-Meter-Weltrekordler David Rudisha, einen der wenigen Massai unter den kenianischen Läufern. In "Man on a Mission" besucht der irische Ex-Läufer Eamonn Coghlan Brother Colm, um dem kenianischen Laufwunder auf den Grund zu gehen. Coghlan wurde 1983 5000-Meter-Weltmeister in Helsinki. Beim Finallauf legte er ein bemerkenswertes Verhalten an den Tag, denn als er in der letzten Runde den Führenden überholt, ballt er die Faust und sieht sekundenlang provozierend zu ihm rüber. (Auch interessant, wie der Finne vor eigenem Publikum völlig entkräftet ins Ziel stürzt und dadurch noch dem verdutzten Russen den dritten Platz abnimmt.)
Brother Colm ist ein sympathischer Mann, der für den Laufsport lebt (er hat auch als erster ein Trainingsprogramm für Mädchen eingeführt.) Die Wettkämpfe seiner Schützlinge sieht er sich vom Sofa aus im Fernsehen an, sie sind mental darauf vorbereitet, sich bei solchen Gelegenheiten selbst zu coachen. Die Läufer trainieren oft dreimal täglich und stehen dafür um 5 Uhr morgens auf (wenn irische 18jährige nach Hause kommen, wie Coghlan bemerkt). Coghlan trifft sein Idol Kipchoge Keino, der, auf die Frage nach dem kenianischen Geheimrezept, die mentale Seite des Laufens betont. Dazu kommt sicher, daß man im Stadion in Iten, wo man auf dem gleichen roten Sandboden trainiert, wie auf den Straßen draußen, den größten Stars begegnet und mit ihnen trainieren kann, es fehlt also nicht an Motivation. Das kenianische Wunder, resümiert Coghlan ist ein "perfect storm of conditions": Ernährung, Höhentraining, harte Arbeit, Armut, der Glaube an sich selbst, denn Kenianer haben beim Laufen inzwischen eine lange Erfolgsgeschichte, die verpflichtet und beflügeln kann. Es ist ein bißchen wie mit Brasilien und dem Fußball, wobei es keinen vergleichbaren Fußballtourismus nach Brasilien gibt. Es wäre ja denkbar, unsere Jugendlichen dort hinzuschicken und unter Originalbedingungen auf der Straße kicken und sich durchsetzen lernen zu lassen.
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