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Literatur

Laufen 12: Laufen und Politik

Laufen 12: Laufen und Politik

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 25.01.2019

Die Arte-Doku "L'Odyssée du coureur de fond(Die "Odyssee des Langstreckenläufers") von 1997 erzählt mit einer Fülle seltener historischer Aufnahmen die Geschichte des modernen Laufsports im 20. Jahrhundert nach. Dabei fällt auf, wie nah sich Sport und Politik immer wieder gekommen sind. Das begann schon mit den Erfolgen des Finnen Hannes Kolehmainen bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm, wo die finnischen Athleten noch unter russischer Flagge antreten mußten. Durch Kolehmainen, den ersten der "Fliegenden Finnen", ist Finnland "auf die Weltkarte gekommen". Das "finnische Laufwunder", das heißt die Tatsache, daß zahlreiche finnische Läufer von den 20er bis in die 40er Jahre die Weltspitze dominiert haben, hatte natürlich eine Bedeutung für den jungen Staat. Paavo Nurmis Trainer Lauri Pihkala, Offizier im Ersten Weltkrieg, der Basball ("Pesäpallo") in Finnland einführte und dem es zu verdanken ist, daß finnische Schüler jährlich in die Skiferien fahren, befürwortete die Eugenik, weil er sich davon die Stärkung der Kampfkraft der finnischen Armee erhoffte. Im Film sehen wir Läufer, die 1924 beim als "Hitzeschlacht von Colombes" in die Sportgeschichte eingegangenen olympischen Querfeldeinlauf entkräftet die Hügel hochtaumeln. Paavo Nurmi gewann das Rennen unbeeindruckt von der Hitze. Wir sehen Nurmi bei Wettkämpfen im Stadion, wo sein Blick nach jeder Runde auf die Stoppuhr in seiner Hand wandert, weil er gegen die Zeit läuft und die Gegner nicht beachtet. Wir sehen Paavo Nurmi und Taisto Mäki, die nach dem Einmarsch der Roten Armee in Finnland in New York empfangen werden und in Sommer- und Winteruniform und mit starkem Akzent dafür werben, Finnland im Kampf um die Freiheit zu unterstützen.

Wir sehen den tschechischen Offizier Emil Zátopek, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem leidenschaftlichen Laufstil die Herzen der Zuschauer eroberte. Er trieb das Intervalltraining auf die Spitze und lief bis zu 100 Mal am Tag 400 Meter, teilweise in ArmeestiefelnAls Jugendlicher hatte er bei der Bat'ia-Schuhfabrik in Zlin gelernt und war eher zufällig zum Laufen gekommen. Wegen der Haltung, die er beim Prager Frühling einnahm, fiel er in Ungnade. Wir sehen die in Weiß gekleideten Oxford-Studenten um Roger Bannister, der 1954 als erster Mensch die Meile unter 4 Minuten gelaufen ist, damals eine ähnlich symbolisch bedeutende Leistungsgrenze wie die 2 Stunden für den Marathon es heute sind. Es war sozusagen der Höhepunkt einer mehr als ein Jahrhundert zurückreichenden britischen College-Lauftradition. Roger Bannister beendete noch im selben Monat sein Medizinstudium. Er hat sich seine Spikes noch selbst dünner geschliffen, um Gewicht zu sparen. Die ledernen Rennschuhe mit eingesetzten "Renndornen" erinnerten damals noch an Ballerinas. (Im fernen Japan war kurz vorher im Jahr 1949 die Firma Onitsuka Tiger gegründet worden, heute ASICS. Der Gründer Kihachiro Onitsuka hatte es im Sinn, die Moral der japanischen Jugend durch Sport wieder aufzurichten und dafür die passenden Schuhe zu entwickeln.) Wir sehen die jubelnden Menschen auf dem Roten Platz bei der Begrüßung der sowjetischen Sportler um Vladimir Kuts, den Doppel-Olympiasieger im 5000- und im 10000-Meter-Lauf von 1956 in Melbourne. Der ungarische Trainer Mihály Iglói setzte sich nach diesen Spielen, bei denen die favorisierten Ungarn, noch geschockt von den Ereignissen um den Volksaufstand in Ungarn, unter ihren Möglichkeiten blieben, mit einigen seiner Athleten in die USA ab und sorgte dort mit seinem Intervalltraining für einen Aufschwung des amerikanischen Mittelstreckenlaufs.

In den 60ern geht der Blick nach Neuseeland und Australien, von wo neue Impulse in der Trainingslehre kamen. In Australien war der legendäre Trainer Percy Cerutty tätig, der den Begriff "stotan" geprägt hat (eine Wortbildung aus "stoisch" und "spartanisch") und seine Läufer in den Sanddünen Hügelläufe trainieren ließ. Seine exzentrische Lehre ging davon aus, daß man sich das Laufen von den Tieren abgucken muß und die Arme unsere "Vorderbeine" sind. Alles geht vom Daumen aus, wenn man beschleunigen will, muß man den Daumen auf die erste Zeigefingerkuppe pressen (es funktioniert tatsächlich, es fühlt sich an, als würde man nach vorne gerissen.) In den 60ern betraten aber auch die ersten Läufer aus Afrika die Bühne (vorher waren bereits Nordafrikaner erfolgreich für Frankreich angetreten), parallel zur Dekolonialisierung, mit allen ihren Verwerfungen. Der erste afrikanische Laufstar war der äthiopische Offizier Abebe Bikila, der 1960 genau 20 Jahre nachdem 500000 italienische Soldaten in seinem Land einmarschiert waren, im Alleingang Rom eroberte, als er den olympischen Marathon barfuß gewann. Wir sehen Aufnahmen, die ihn nach seinem Autounfall im Rollstuhl zeigen, wie er nunmehr als Bogenschütze für Olympia trainiert. Wir sehen die Trauerfeier für Paavo Nurmi, 1973 in Helsinki, der sein ehemaliger Konkurrent Ville Ritola beiwohnt, dem er im Alter finanziell unter die Arme gegriffen hat.

Seit Jimmy Carter haben sich die Amerikanischen Präsidenten als Jogger inszeniert, wobei Donald Trump, vielleicht weil er ein erklärter Gegner alles Urbanen ist – und Joggen ist im Wesen urbaner Lebensstil -, sich hier eher zurückhält. Ich habe nur eine Aufnahme gefunden, die ihn zeigt, wie er ein paar Schritte mit einer Fackel läuft, um, wenn ich das richtig verstanden habe, eine Olympiabewerbung von New York zu unterstützen. (Den Fackellauf in seiner heutigen Form gab es bei den Griechen nicht, er wurde 1936 von Carl Diem, dem Cheforganisator der Olympischen Spiele in Berlin erfunden. Ab 1947 war Diem dann Rektor der Deutschen Sporthochschule in Köln.)

Laufen war aber schon immer politisch, die Geschichte von Pheidippides, der nach der Schlacht von Marathon die Athener vom Sieg unterrichtet haben soll, ist zwar eine Erfindung, die erst 600 Jahre später datiert, aber bei Herodot steht immerhin eine Version von einem Läufer, der die viel längere Strecke von Athen nach Sparta zurückgelegt haben soll, um die Spartaner zu überzeugen, sich am Kampf gegen die Perser zu beteiligen. Sport diente damals der Wehrertüchtigung. Es war aber auch eine große Kulturleistung der Griechen, es Männern durch organisierte Wettkämpfe möglich gemacht zu haben, eine Niederlage zu erleiden, ohne den Gegner aus Wut über diesen Ehrverlust im Anschluß zu töten. Verlieren zu lernen ist eine der wichtigsten Lehren, die der Sport vermittelt.

Die Wiederentdeckung der gesundheitlichen Vorteile von Bewegung im Freien und ihre Integrierung in den schulischen Lehrplan war eine Leistung der philanthropischen Pädagogen in der Folge von Rousseau (der im "Émile" seinen Schützling noch mit Kuchen zum Laufen motiviert). GutsMuths arbeitet einen Kanon von gymnastischen Übungen für die bürgerliche Jugend aus, um ihr das Schicksal der Kinder der besseren Stände zu ersparen, also "Verweichlichung" und "Verzärtelung" als Folge von "Warmhalten, Einhüllen, Purgieren, Schwitzen, Aderlassen, Vermeidung der bösen Witterung, Stubenhüten." Nicht zuletzt ging es aber auch um die Unterdrückung sexueller Regungen bei den Heranwachsenden.

In den 60er Jahren des 19.Jahrhunderts gab es in Preußen den "Barrenstreitum die Frage, ob der Unterricht für Leibesübungen dem Vorbild der gesundheitsorientierten schwedischen Gymnastik folgen sollte oder dem Jahnschen "Deutschen Turnen", das eher den Charakter schulen sollte und militärisch angehaucht war (zum Leidwesen von Generationen von Schülern ging der Streit zugunsten des Turnens aus). Daß der Staat bestimmen will, in welcher Form seine Bürger Sport treiben sollen, hat sich bis in die DDR fortgesetzt, wo in den 80ern der Triathlon populär wurde, was von den Funktionären zunächst verhindert werden sollte, bis man ihn als "Ausdauerdreikampf" duldete. Ins Logo mancher Wettkämpfe haben die Veranstalter trotzdem ein "T" schmuggeln können.

Zu einer politischen Figur wider Willen ist der Weltklasse-Mittelstreckenläufer Otto Peltzer geworden, der 1926 in Berlin Nurmi mit Weltrekordzeit besiegt hat. Wegen seiner Homosexualität wurde er in der Nazizeit verhaftet, in Plötzensee mißhandelt, und, nachdem er später aus Schweden ausgewiesen worden war, ins KZ Mauthausen gesteckt, wo er im Steinbruch Zwangsarbeit verrichten mußte, die er nur knapp überlebte. Auch er hatte allerdings noch mit einer Arbeit über Eugenik "zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft" promoviert. Den Funktionären des Leichtathletikverbands war er lästig geworden, weil er populär, eigenwillig und meinungsstark war, gerade was die Trainingsmethodik betraf, zu der er sich in vielen Büchern äußerte. Nach dem Krieg mußte er erleben, wie ehemalige Nazi-Funktionäre die Sporthochschule Köln aufbauten und sich gegenseitig protegierten, während er in Deutschland keinen Fuß mehr auf den Boden bekam, endgültig nachdem er in der DDR publiziert hatte. Er ging ins Ausland und landete schließlich auf der Suche nach einer Anstellung als Trainer in Indien. Seine Gegner schrieben aus Deutschland Briefe an die Deutschen Botschaften, um ihn als Homosexuellen und Kommunisten zu denunzieren.

In den späten 70er Jahren kam es beim Laufen zu einem Paradigmenwechsel. Gesunde Lebensmittel, saubere Luft, menschenfreundliche urbane Bedingungen liegen Läufern per se am Herzen, wer läuft entwickelt schnell ein Bewußtsein für Umweltprobleme und für das Scheitern des Konzepts der autogerechten Stadt. Solche Gedanken liest man in Manfred Steffnys Buch "Lebens-Lauf" von 1979, das mit einem Lauf über die Autobahn zur Arbeit an einem der durch die Ölkrise bedingten autofreien Sonntage in den 70ern einsetzt. Seitdem entwickelten sich neue Lauftrends, die Laufen als innere Erfahrung, fern von Leistungsdenken propagieren, Gentle Running, Running Flow, Chi-Running, Natural Running. Aus Frankreich kommt das Parcours-Laufen, eine Art DIY-Training, das zu aktuellen Diskussionen über Downshifting, Konsumverzicht, Naturschutz, Nachhaltigkeit paßt. Der öffentliche Raum wird zurückerobert und mit Phantasie und Spontaneität in einen Spielplatz oder ein Trainingsgerät verwandelt. Manche Parcours-Läufer berufen sich auf die Méthode Naturelle, eine Trainingsphilosophie, die der Franzose George Hébert am Anfang des Jahrhunderts entwickelt hat. Der wichtigste Adept dieser Methode war damals der französische Stundenweltrekordler Jean Bouin gewesen. Eine sehr gute Studie über ihn ist 2018 erschienen (Bernard Maccario: "Jean Bouin"). Jean Bouin war vor dem Ersten Weltkrieg der erste französische Läufer gewesen, der die traditionelle englische Cross-Country-Dominanz brechen konnte. Er war auch einer der ersten Amateure, der die Leistungen der Professionellen übertraf. Amateure durften damals Preise nur in Form von Kunstwerke bekommen. Dauerlauf galt noch als ungesund und gefährlich, bzw. als Parodie und Karikatur von Pferderennen, die damals Frankreich der maßgebliche Sport waren. Es war ein ganz neuer Gedanke, daß Kraft nicht mehr nur durch Muskelmasse repräsentiert werden konnte, sondern durch Ausdauer. Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg war Sport stark nationalistisch besetzt gewesen, es wurden zahlreiche Gymnastikvereine gegründet, bei den Olympischen Spielen, die 1916 in Berlin stattfinden sollten, wollten die Franzosen beweisen, daß "ihre Rasse" mithalten konnte. Im 19.Jahrhundert hatte man nur ungenügende Kenntnisse über richtiges Training, man hielt eher moralische Qualitäten für wichtig, Mut, Willenskraft, Hartnäckigkeit. Die Trainer der Profis hielten ihre Methoden geheim. Training bedeutete Entbehrungen und Leiden, die dem Athleten vom Trainer auferlegt wurden. Trainingsfortschritt maß sich in Gewichtsabnahme. Man arbeitete mit Diäten, Aderlässen, Abführmittel, Trinkverbot auch beim Training, Schwitzmärschen in Flanell und Wollkleidung. Jean Bouin trainierte nach Hébert, der so etwas wie die ersten Trimm-Dich-Pfade erfunden hatte. Bouin schleppte Baumstämme, kletterte auf Bäume und warf Steine, ein bißchen wie Rocky in Rocky IV. Bei Bouin kam eine spezielle Fußhygiene dazu, er empfahl, seine Füße nicht zu waschen, sondern nur abzutupfen, um sie robuster zu machen. Um die Atmung zu beherrschen lief er mit einem Zahnstocher zwischen den Kauleisten, damit er (warum auch immer) nicht zuviel Luft einatmete. Die Zuschauer an der Strecke stürzten sich auf seine Zahnstocher, wenn Bouin sie wegwarf. Sein Gegner Kolehmainen, der ihn 1912 bei Olympia knapp besiegte, beide liefen damals weit unter Weltrekordzeit, lächelte, um den Atem zu regulieren, beim Laufen immer mit halb geöffnetem Mund.

 Anfang des 20.Jahrhunderts kam eine große Begeisterung für Stundenweltrekorde im Laufen und Radfahren auf. Um 1900 kam es zur Liebes- und Vernunftehe zwischen Presse und Sport. Die neue Leidenschaft für das Zeitmessen hing sicher auch mit den neuen technischen Möglichkeiten zusammen (wobei Armbanduhren sich für Herren erst im Zuge des Ersten Weltkriegs durchsetzten, bis dahin galten sie als feminin.) Das Zeitmessen stand wiederum im Zusammenhang mit der Taylorisierung der Arbeitsprozesse. Bis ins 19.Jahrhundert hatte man in Regionen, die keine Eisenbahnverbindung hatten, gar keine Vorstellung von präzisen Zeitangaben gehabt. Jean Bouin fiel schon in den ersten Kriegswochen und blieb eine Legende. Eine Statue zeigt ihn als Vorfußläufer.

Ein eher deprimierendes Beispiel dafür, wie Sport ideologisch instrumentalisiert werden kann, ist "Nurmi", ein Roman von Willi Fr. Könitzer aus dem Jahr 1937. Die (fiktive) deutsche Langstreckenhoffnung Fritz Eckel kämpft darin am Ende des Ersten Weltkriegs mit einem deutschen Kontingent im finnischen Bürgerkrieg für die "Weißen". Unter den finnischen Freiwilligen, die er befehligt, ist auch Leutnant Pihkala, später Paavo Nurmis Trainer. Eckel erleidet eine traumatische Neurose und sitzt jahrelang gelähmt im Rollstuhl. Seine Frau bemüht sich vergeblich, seine Stimmung aufzuhellen. Er findet Arbeit an einer Schule, aber ein fieser sozialdemokratische Abgeordneter zwingt den Direktor, Eckel zu entlassen, da er als ehemaliger Frontoffizier seinen Sohn "gegen den Geist unserer Zeit beeinflusse". (Später wird der Abgeordnete wegen Unterschlagung verurteilt und sein Sohn, der Eckel denunziert hatte, fällt in der Prüfung durch.) Im Sanatorium liest Eckel zufällig einen Bericht über Nurmis Selbstüberwindung bei Olympia in Paris und nimmt sich vor, sich in Zukunft zusammenzureißen. Er sieht schließlich ein Rennen von Nurmi im Stadion und sitzt dabei neben seinem alten Bekannten Pihkala (seine Züge verhärten sich sechs Mal, immer, wenn die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik gehißt wird, an die er nicht glaubt.) Als Nurmi ("Nurmi blieb jung wie das Holz der Esche") gegen Ritola und den Schweden Wide siegt, springt auch der gelähmte Eckel auf. Die Augen seiner Frau Edith füllen sich mit Tränen der Begeisterung. Die Szene ist so albern wie die Spontanheilung von Matthew in "Downton Abbey", nach der die Serie für mich spätestens gestorben war.

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Kommentare 1
  1. Uwe Protsch
    Uwe Protsch · vor mehr als 5 Jahre

    Wenn ich bedenke, dass ich die "Laufen"-Beiträge ursprünglich gar nicht lesen wollte, muss ich feststellen, dass dies ein großer Fehler gewesen wäre. Und vielen Dank für diesen Satz:

    "Verlieren zu lernen ist eine der wichtigsten Lehren, die der Sport vermittelt."

    Hätte ich ihn doch schon zu meiner Schulzeit gekannt! Viel gelernt hab ich nicht in der Schule, aber verlieren habe ich dort viel gelernt...

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