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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Man kann sich die Wörter einer Sprache ungeordnet durchlesen, also in Form von Romanen oder der Zeitung, dabei kommt es aber immer wieder zu Doppelungen, weil Wörter mehrfach benutzt wurden, und andererseits kann man nie sicher sein, ob wirklich schon alle Wörter dabei waren. Man kann sich die Wörter aber auch systematisch und alphabetisch geordnet durchlesen, ganz ohne Handlungsschlacke, in einem Wörterbuch, und das hat mich immer gereizt. Dabei könnte das Benutzen von Wörterbüchern einen inzwischen schon zum Rentner stigmatisieren wie Kleidung in beige oder der aufklappbare Haken, den meine Oma immer dabei hatte, um ihre Handtasche daran an einem Cafétisch aufhängen zu können.
Ich nutze natürlich auch manchmal das Internet, um mir Wörter zu übersetzen, manchmal lasse ich sogar eine Google-Suche über die Rechtschreibung entscheiden, mehr Treffer bedeutet dann richtigere Schreibung. Aber eine Fremdsprachen zu lernen ohne Wörterbuch, kann ich mir nicht vorstellen. Noch dazu bin ich, wie bei meiner Sportbekleidung und bei meinem Waschmittel, sehr markentreu und kaufe immer nur die gelben Wörterbücher von Langenscheidt, obwohl es auch grüne von Pons oder noch ganz andere gibt, aber ich kann einfach nicht mehr wechseln. Mein erstes kleines Langenscheidt für Französisch hatte ich als Schüler (gebraucht) geschenkt bekommen, es enthielt größtenteils dieselben Wörter wie meine DDR-Wörterbücher (die bestimmt nicht schlechter waren, viele Langenscheidt-Wörterbücher für osteuropäische Sprachen, die ich später kaufte, waren laut Impressum Nachdrucke vom VEB Bibliographisches Institut Leipzig), aber es hatte diesen wasserfesten Gummieinband, der es für Outdoor-Einsätze prädestinierte, und mit dessen Ecken man sich in Notfällen sogar die Nägel reinigen konnte.
Weil ich das ewige Nachschlagen im Wörterbuch leid hatte, kam ich damals auf die Idee, einfach alle französischen Wörter zu lernen und mir dafür das Wörterbuch von vorne systematisch durchzulesen. Ich nutzte dafür den Heimweg von der Schule mit der S-Bahn, die Scheiben waren schmutzig, die Sonne knallte, es roch eigentlich immer ein bißchen nach Kotze, ich war seit Jahren übermüdet und schlief jedesmal auf der ersten Seite ein. Ich erinnere mich aber noch an das Wort "abat-jour", "Lampenschirm", es war für mich damals ziemlich entmutigend, daß schon so ein einfaches Wort wie "Lampenschirm" auf Französisch so übertrieben kompliziert klang. Ich habe es auch noch nie benutzt, tatsächlich hat sich nie eine Situation ergeben, in der ich "abat-jour" hätte sagen müssen.
Wie ich später mit Entsetzen feststellte, gab es die Langenscheidt-Wörterbücher auch noch in viel größeren Versionen, es ging immer noch umfangreicher (ich hätte das eigentlich wissen müssen, weil meine Eltern eine meterlange Lederausgabe des "Grimm" im Regal hatten). Kaum hatte man den Punkt erreicht, daß einem sein Wörterbuch nicht mehr weiterhelfen konnte, mußte man sich ein dickeres Wörterbuch besorgen, mit dem man sich wieder wie ein Anfänger fühlte. Ich träumte davon, für jede Sprache das kleine, das größere schmale, das dicke und vielleicht sogar das große dicke Wörterbuch zu besitzen, ein gelbes Regal, in dem ich jedes Wort der Welt zur Verfügung hatte.
Wenn ich ein Wörterbuch viel nutzte, färbte sich der Vorderschnitt von meinen Fingern immer dunkler, man könnte auch sagen, er wurde schmutzig. Mit der Zeit gelang es, die gewünschte Seite auf Anhieb aufzuschlagen. Wir übten das im Unterricht in der Schule mit dem Duden, aber heimlich sahen wir nach, ob Wörter aus unserem eigenen Wortschatz drinstanden, was wir sehr lustig fanden. Die unglaublich komische Definition von "Popel", das weiß ich noch heute, war "gehärteter Nasenschleim". Für unsere Russischwörterbücher bastelten wir gemeinsam in einer der ersten Stunde einen Buchstabenindex, indem wir die Ränder der Seiten so abschnitten, daß Stufen entstanden, die wir mit Tesaband präparierten.
Weil es mich ärgerte, daß ich manche Wörter immer wieder nachschlagen mußte (es gab solche Fälle in jeder Sprache, ich erinnere mich, daß es auf Russisch "opredeljonnij" war) markierte ich nachgeschlagene Wörter mit einem Bleistiftstrich. Wenn ein Wort 4, 5 oder 6 Striche hatte, war es wirklich an der Zeit, es sich einmal zu merken (manchmal schrieb ich es dann raus und erstellte so nach und nach eine Abschrift vom Wörterbuch.) Umgekehrt begann ich, mich für die Wörter zu interessieren, die noch keinen Strich hatten, was hatte es mit denen auf sich? Warum versteckten sie sich im Wörterbuch? Außerdem las ich mir bei jedem Nachschlagen zwanghaft die Wörter in der Umgebung des gesuchten Worts durch. Und dann gab es die zufälligen Kombinationen von Wörtern, die oben im Kopf der Seite standen, und die man häufiger las als alle anderen Wörter, obwohl man sie überhaupt nicht gesucht hatte.
Mein neuestes Langenscheidt ist für "Finnisch", ich habe es vor kurzem gekauft, noch werden sie also gedruckt! Die Zeiten ändern sich, es steht zwar nicht "ficken" und "Kacke" drin, aber immerhin "Scheiße" (mit einem großen F als Warnhinweis, was für "familiär" steht, als würde man in der Familie so reden.) Wenn ich das Wörterbuch von vorn lese, stoße ich sofort auf "aalto", "die Welle", wo ich mir in Finnland doch Alvar Aaltos Wohnhaus ansehen will! Nachnamen sind immer eine gute Eselsbrücke, fast alle ungarischen Wörter, die ich mir merken konnte, waren Nachnamen, wie "Kertész" (Gärtner), "Bútor" (Möbel), "Kovács" (Schmied), "Szabó" (Schneider). Ein anderer finnischer Eselsbrücken-Name ist "Mieto" (mild), was manchmal auf den Senftuben steht und mich an Juha Mieto erinnert, den finnischen Skilangläufer, der in seiner Karriere ewiger Zweiter war. Wie oft sahen wir ihn im Fernsehen mit Eis im Bart einsam durch den Wald gleiten, aber besonders schlimm war es bei den Olympischen Winterspielen 1980 in Lake Placid, als er im 15-Km-Lauf (in meiner Erinnerung war es der 50-Km-Lauf) vom Schweden (ausgerechnet ein Schwede!) Thomas Wassberg um eine Hundertstelsekunde geschlagen wurde (bei 1:49 hört man die finnischen Reporter leiden). Ab da wurde beschlossen, nur noch Zehntelsekunden zu werten, zu spät für Juha Mieto!
Ich mache sofort Stichproben mit anderen finnischen Namen:
nurmi - Rasen
pukki - Bock
kauris - Ziege und mäki - Berg ("mäkihyppy" heißt dementsprechend logischerweise "Skispringen".)
Es funktioniert! Ich könnte statt des Wörterbuchs eigentlich auch das Telefonbuch von Helsinki auswendig lernen!
Weil im Finnischen viele Substantive ein "i" am Ende haben, können wir gar nicht anders, als all diese Wörter niedlich zu finden:
bussipysäkki - Bushaltestelle
permanentti - Dauerwelle
broileri - Brathähnchen
pankki - Bank
Manchmal fallen auch noch Konsonanten im Anlaut weg, was es noch niedlicher macht, wie bei zweijährigen Kindern, die gerade sprechen lernen:
lasipalatsi - Glaspalast
näkkileipä - Knäckebrot
Während ich auf dem Hinflug nach Finnland in meinem neuen Langenscheidt-Wörterbuch blättere, muß ich immer wieder grinsen, so lustig ist die Lektüre. Die Situation wird noch komischer, wenn ich aufschaue und sehe, wie ernst und ungerührt die Finnen auf den Sitzen neben mir gucken, um trotz ihrer niedlichen Sprache von der Welt respektiert zu werden.
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