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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Klaus Schlesinger gehört zu den Autoren, die ich schon als später Jugendlicher gelesen habe, als man auf Tips anderer angewiesen war. Zu der Zeit lebte Schlesinger schon im Westen, und während ich heute googeln könnte, was er alles geschrieben hat, war ich damals auf Besuche in Antiquariaten angewiesen, wo mir auch "Alte Filme" aus dem Rostocker Hinstorff-Verlag in die Hände fiel, 1975 erschienen, 5.Auflage 1987, ich hatte keine Ahnung, was für Schlesinger dazwischen lag, aber dazu später. Nach und nach habe ich alles von ihm gelesen, das großartige "Leben im Winter", ein überaus dicht komponiertes Buch über ein Ost-West-Familientreffen im Ostberlin der späten Siebziger, "Hotel oder Hospital" die weniger bekannte lange Reportage über ein neues Krankenhaus in Rostock (er kam ja von der Reportage zum Schreiben), in dem er ein paar Wochen verbrachte, noch ganz begeistert von den Versprechen der Technik (im Jahr 2000 werde man vielleicht "ein Videophon" haben "und einen Fernseher mit 12 Programmen"), und nachdenkend über den Anachronismus, im Sozialismus noch an Krebs zu sterben (ohne zu wissen, daß er eines Tages selbst daran sterben würde), den unvollendeten Roman "Die Seele der Männer", 2003 nach seinem Tod erschienen, der mich besonders berührt, weil Schlesinger hier noch einmal sehr zärtlich und detailliert ins Ostberlin der späten 50er Jahren eintaucht. Der Held wohnt bei seiner Mutter, die ihn morgens weckt, wenn er zur Arbeit muß, Muckefuck kocht und eine Zuckerstulle schmiert. Vom Kumpel bekommt er Tips gegen Geschlechtskrankheiten: Vor dem Sex nicht Wasser lassen, hinterher die Vorhaut zuhalten und schiffen. Die Wirtin in der Stammkneipe nimmt sich abends ein angewärmtes, gesüßtes "Schlafbier" in die Wohnung. Er ist Laborant in einer Fabrik in Weißensee. Ein Kollege war bei der Fremdenlegion und ist im Betrieb verantwortlich für "Sichtagitation", ein anderer war "nach dem Aufstand" für ein halbes Jahr verschwunden. Die abgesägte Granatenhülse als Aschenbecher. Montags Eintopf, Brühreis oder Bandnudeln in der Kantine. Der wehmütige Ton der Fabriksirene. Vor dem ersten Rendezvous mit einem Mädchen gibt es einen "Rundschnitt für 1,50" (von hinten gegen das Haar tippen, um die Welle über der Stirn zu heben.) Er leistet sich eine Badewanne im Stadtbad Oderberger Straße und kauft Blumen. (Soll man das Papier des Blumenstraußes gleich oder erst kurz vor der Übergabe entfernen?) Eigentlich ist er ja in ein Mädchengesicht aus einem Film über die Belagerung Leningrads verliebt. Wie schade, daß dieser Roman nicht zu Ende geschrieben wurde! Klaus Schlesinger ist 1937 in Berlin geboren und in der Dunckerstraße aufgewachsen (wo heute ein Gedenkschild an ihn erinnert), sein Vater blieb als Soldat vermißt. Später hat er sich intensiv mit der deutschen Schuld auseinandergesetzt, in der Jugend war er sozusagen ein Straßenkind in einer Epoche des Prenzlauer Bergs, in die ich mich als viel später aus dem Neubau hierher gezogener romantisch hineinphantasiert habe. Immerhin kam ich ja ursprünglich auch aus dem Altbau und habe noch frühe Kindheitserinnerungen an diese Zeit, als die alten Viertel Ostberlins noch an Döblin erinnerten. Es fiel Schlesinger schwer, sich von seiner Straße, der Duncker, zu entfernen, das spürt man, wenn man sein großartiges Tagebuch "Fliegender Wechsel" liest, das er 1980 begonnen hat, als er, wie viele Künstler aus der DDR, ein zeitlich begrenztes Dauervisum für Westberlin bekam, ein eleganter Weg, die Störenfriede loszuwerden, ohne sie einzusperren. Schlesinger wollte aber gar nicht ausreisen, er hat schwer mit sich gerungen, ob er nach den drei Jahren zurückgehen sollte in die DDR, die aber nicht nur ihn körperlich krank machte, oder im Westen bleiben, an dem er vieles nicht akzeptierte. Der Blick des Neulings auf Westberlin ist sehr interessant, man findet vieles wieder, was man selbst nach der Wende beobachtet hat. Am bedrückendsten vielleicht die Probleme, die er auch dort wieder als Autor hat, wo er ja eigentlich frei ist, aber auf dem Markt funktionieren muß, die Fernsehredaktionen wollen weniger nachdenkliche Stoffe "Wir brauchen positive Helden". Schlesinger hat, so würde ich das interpretieren, eine Utopie gebraucht und in einem besetzten Haus in der Potsdamer Straße gelebt, eine Erfahrung, die sich im wunderbaren "Matulla und Busch" niederschlägt, in dem ein Rentner aus dem Altersheim nach Berlin ausbüchst, um sich ein Haus anzusehen, das er geerbt hat, und das sich als besetzt herausstellt. Eine Art Kultbuch im Osten war "Alte Filme", das ich 1989 bei der Armee verschlungen habe und nun noch einmal. Ich staune dabei über das, was ich als Jugendlicher übersehen habe bzw. womit das Buch bei mir gewirkt hat, heute, sozusagen in meiner Lebensmitte, berührt es mich noch einmal ganz anders. Der Held Kotte wohnt mit Frau und Kind zur Teilhauptmiete im Prenzlauer Berg. Das heißt, er teilt sich die Wohnung mit einer ständig hustenden Rentnerin im Zimmer nebenan. Auf dem Klo hat man zwei Lichtschalter. Er fährt jeden Morgen um sechs Uhr sechzehn mit der S-Bahn ins Transformatorenwerk Schöneweide, wo er wider Willen vom Schlosser zum Konstrukteur qualifiziert wurde, wodurch er sich seinen alten Kollegen aus der Werkhalle entfremdet hat (wo man noch gemeinsam "den Normer verschaukelt hat und den Meister". Nach der Arbeit holt er die Tochter vom Kindergarten ab, schleppt ein volles Einkaufsnetz vom Konsum nachhause, tischlert im Keller seines Mietshauses an Möbeln für die Wohnung und sieht abends gerne alte Filme im Fernsehen, am liebsten UFA-Komödien. Er geht jeden Dienstag aufs Wohnungsamt, um durch Hartnäckigkeit und psychologisches Feingefühl vielleicht doch einmal außer der Reihe eine größere Wohnung zugewiesen zu bekommen, obwohl sie "endversorgt" sind, bevor seine Frau nicht wieder schwanger sei, sei nichts zu machen. Eines Abends sieht er in einem alten Film seine alte Nebenmieterin als Varieté-Tänzerin auftreten und gerät in eine Lebenskrise. Es ist sehr selten in der Literatur, daß man einen Helden hat, der seine Gefühle gar nicht verbalisieren kann, weil er es als "einfacher Mensch" nicht gewohnt ist, und trotzdem ist alles glaubhaft geschildert. Kotte ist auf seine Art ein Intellektueller, weil er nirgends mehr richtig dazugehört, obwohl er gerne möchte. Aber er hat keinen Ausdruck für seine Entfremdung. Kotte kommt sein Leben abgezirkelt und vorbestimmt vor, schließlich ist er, wie damals üblich, noch keine 30 und schon Familienvater. Nicht nur die Wohnung ist eng, sondern, was nicht extra ausgesprochen werden muß, auch das Land. Wird er je die Pyramiden sehen? Kotte gerät in Unruhe, er hilft sich damit, abends in der Kneipe schnell ein paar Bier und Schnäpse zu kippen. Nicht einmal der Sieg des 1.FC Magdeburg im Europapokalfinale gegen den AC Mailand interessiert den Fußballbegeisterten mehr. An einem Wochenende, an dem seine Frau offenbar fremdgeht, mit dem neuen Mann vom Wohnungsamt, der sie auch schon zum Kaffee eingeladen hatte, treibt Kotte "ziellos" durch die Berliner Mitte. Beim Spazieren muß er an der Mauer umkehren, "quer über Straße und Bürgersteig spannten sich von Hauswand zu Hauswand die schmalen Betonblöcke, in graugestrichene Eisenträger gelegt, drei oder vier Meter hoch." Eine der Stellen, deren Gewagtheit einem als Zeitzeugen heute auffallen. Er lernt einen Lebenskünstler und Maler kennen ("Wenn ich mal Geld brauche, geh ich zum Colosseum und mache eine Kinoreklame"), verliebt sich in dessen Frau, gerät in eine Party von Prenzlauer-Berg-Intellektuellen ("So etwas hat er noch nie erlebt, nur mal in einem Film gesehen, einem französischen, glaubt er, mit Alain Delon"). Die seltsamen Langhaarigen denken darüber nach, wie man die Arbeiter dazu bringt, daß sie ihr Theater-Abo, das die Brigaden haben ("Einmal im Monat gingen die Kollegen des Konstruktionsbüros geschlossen ins Theater; sie standen im Wettbewerb"), weil sie sich eine Prämie erhoffen, wirklich nutzen und sich auch die anstrengenden Gegenwartsstücke ansehen und nicht nur Komödien. Sie wissen offenbar nicht, wovon sie reden, wenn sie von Arbeitern reden, wie Kotte ihnen betrunken klarmachen will. Er ist wieder ein Außenseiter. Er besucht seine Eltern, mit denen er nicht reden kann. Er treibt sich mit seiner neuen Clique rum, steigt am Alex die Brunnenschalen hoch und wird von der Polizei abgeführt ("Machen Sie keine Schwierigkeiten ...") Nach diesem kathartischen Wochenende gönnt Schlesinger uns und Kotte ein hoffnungsvolles Ende, die Nachbarin stirbt, Kotte macht Pläne, wie er die Wand zu ihrem Zimmer rausreißen könnte ("Zum Leben braucht man Raum"). Im Betrieb hat er Glück, daß der Vorfall nicht zu hochgehängt wird ("So was kommt doch in die Akten"). Er findet noch einmal zurück ins Kollektiv und in seine Ehe. Er träumt wieder und spürt Lebenslust und freut sich auf alte Filme im Fernsehen. 1975 sah Schlesinger noch die Möglichkeit so eines hoffnungsvollen Endes für sein Buch. "Alte Filme" hat kein bißchen Staub angesetzt, auch wenn es durch viele, inzwischen verschwundene Details, eine zusätzliche dokumentarische Qualität bekommen hat. Damals mußte man nicht erklären, was es hieß, wenn Kottes Vater "vierundfünfzig rübergegangen" ist, wenn die Wohnungsamttante von den "neuen Beschlüssen" spricht, was das Café Burger mal gewesen ist, was es bedeutet, wenn junge Leute Emerson Lake und Palmers Version der "Bilder einer Ausstellung" hören, wie sich Sex zu Eric Burdons "Man - Woman" anfühlt oder was dahintersteckt, wenn Kotte in die Feier einer Brigade vom Glühlampenwerk gerät, mit einem hübschen Mädchen, das schon im Jugendwerkhof war und einem Brigadier "ein Mann wie aus dem Fernsehen, halb Papa, halb Partei." Vielleicht ist das die Qualität von Schlesinger, der halb Arbeiter war, halb Intellektueller, der das Milieu, über das er schrieb, genau kannte, nicht dort stehengeblieben ist, aber sehnsüchtig daran hing. In diesem Januar wäre Klaus Schlesinger 80 Jahre alt geworden, leider ist er schon 2001, viel zu früh, an Leukämie gestorben. Am 12.1.17 wird es im "Buchhändlerkeller" in der Carmerstraße 1 eine Klaus-Schlesinger-Gedenkveranstaltung geben, Annett Gröschner und ich werden Schlesinger-Lieblingsstellen lesen, seine Biographin Astrid Köhler wird moderieren.
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