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Quelle: Benno Pludra "Ein Mädchen fand einen Stein", Der Kinderbuchverlag Berlin 1981.
Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Ich bin immer froh, wenn ich ein Kinderbuch finde, das auf eine unaufdringliche Art poetisch ist und sich auf eine unaufgeregte Art an Kinder wendet. Benno Pludra, der mit 17 Matrose geworden ist und nach dem Krieg ein Studium begonnen und nicht beendet hat, um Kinderbücher zu schreiben, der sein Leben lang gesegelt ist, der sehr alt geworden ist und nach Verkaufszahlen und Bekanntheitsgrad seiner Bücher der erfolgreichste Kinderbuchautor der DDR war, ist das einige Male gelungen ("Lütt Matten und die weiße Muschel", "Bootsmann auf der Scholle", "Insel der Schwäne"). Ich erinnere mich, wie wir in einer der ersten Klassen im Deutschunterricht "Die Reise nach Sundevit" lasen (das Buch ist von Heiner Carow in Schwarz-Weiß verfilmt worden). Einer las immer laut, und die anderen folgten mit dem Finger im Text, jeder für sich in seinem Buch. Ab und zu wechselte der Leser. Da mir das Gestotter zu langsam ging, las ich heimlich weiter, dazu schielte ich auf den nächsten Seiten nach dem Text und hielt mit dem Finger ungefähr die Stelle im Buch aufgeschlagen, wo wir waren. Als ich dann dran kam, fand ich nicht gleich die richtige Stelle und bekam eine schlechte Zensur. So etwas vergißt man nicht! Es paßte zur Ungerechtigkeit, die dem Jungen widerfährt, der am Ostseestrand einer Gruppe Kinder begegnet, die in ein Zeltlager fahren wollen. Er darf sie begleiten, aber unterwegs zum Treffpunkt wird er dauernd mit kleinen Aufträgen von Erwachsenen aufgehalten, bis er zu spät kommt und die Kinder schon weg sind. Nun habe ich "Ein Mädchen fand einen Stein" (illustriert von Martin Schoppe) entdeckt, das ich bisher nicht kannte. Wie ich so ein Buch wohl als Kind gefunden hätte? Gegen "Tim und Struppi" hätten diese stillen Geschichten bei mir kaum eine Chance gehabt. Heute kann ich sie, was bei Kinderbüchern selten vorkommt, immer wieder vorlesen, ohne mich allzusehr zu langweilen. Ein Mädchen findet einen leuchtenden, warmen, blanken Stein am Strand, aber keiner im Dorf interessiert sich dafür. Seltsamerweise kann das Mädchen mit diesem Stein bewirken, daß sich die Mühle dreht und daß ein anderes Mädchen grüne Haare bekommt. Als es atemlos zuhause ankommt und seiner Mutter vom Stein berichten will, hört die nicht zu: "So spät, so spät. So spät. Warum denn kommst du so spät?" sagt die Mutter. "Das Mädchen blieb stumm, es sah eine Wolke: fern und leicht und weiß und still. Der Himmel war blau, die Wolke war still, und das Mädchen dachte: Sie hört mir zu – und wünschte sich fort auf die Wolke." Das ist schon alles, mehr muß man nicht sagen. In der zweiten Geschichte schwimmt ein kleiner Junge zu weit auf einen See hinaus, bis zu einem Pfahl, an dem er sich festhält. Er ist glücklich und stolz, aber dann nähern sich Schwäne, vor denen er vom Vater gewarnt wurde. Er friert und zögert, bis er sich ein Herz faßt, sich von der Stange abstößt und zwischen Seerosen und Schwänen hindurch entkommt. Die Angst vor den Schlingen der Seerosen und vor den Schwänen, das kühle Wasser, auf dem der Junge, der im Sommer erst Schwimmen gelernt hat, zum ersten Mal alleine schwimmt, die Erfahrung, Mut bewiesen und sich aus eigener Kraft geholfen zu haben, das alles steckt in der kleinen Szene. Die dritte Geschichte ist am eindrucksvollsten, es wird einfach das Leben eines Paars Schuhe erzählt, das nacheinander von mehreren Brüdern getragen wurde, bis die zerlöcherten Schuhe auf ein Feld weggeworfen werden, eine Mäusefamilie darin lebt, Laub sie zudeckt, Schnee darauf fällt, und auf dem letzten, farbenfrohen Bild, ist wieder Frühling: "Aus dem Feld, aus dem Gras, aus Busch und Strauch – es blühten überall Blumen. Von den Schuhen war nichts mehr zu sehn." So beiläufig, so wenig düster und im Grunde versöhnlich habe ich in einem Kinderbuch noch nie von der Vergänglichkeit gelesen.
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