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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
1985 ist im Kinderbuchverlag Berlin "Der alberne Herr Patella" erschienen, ein Kinderbuch von Christiane Grosz, das mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Wolfgang Wandelt arbeitet, die den Prenzlauer Berg in den 80er Jahren zeigen, was schon auffällig ist, da in DDR-Kinderbüchern damals eher Neubauviertel als Hintergrund dienten. Altbau, noch dazu das Prenzlauer-Berg-Milieu, galt wohl eher als Relikt und nicht als kindgerechte Umgebung. Auf das Buch bin ich zufällig gestoßen und habe es gekauft, weil mir die Ästhetik für ein DDR-Kinderbuch ungewöhnlich vorkam, und weil mich die Prenzlauer-Berg-Fotos interessierten. Auf dem vorderen Vorsatzpapier sieht man einen Mann, der in der Senefelder Straße eine dampfende Teekanne auf dem Kopf balanciert. Neben ihm geht ein Kind an der Hand von Vater und Mutter (DDR: "Vati und Mutti"), die Frau trägt in der anderen Hand eine beschriftete Plastiktüte am Henkel, offenbar stammt sie nicht von einem Einkauf, sondern wird, wie damals üblich, als modischer Beutel verwendet. Die Bürgersteigplatten aus Lausitzer Granit ("Schweinebäuche"), der nach dem Regen bunt schillert, sind noch nicht ausgetauscht gegen chinesischen, gleichmäßig grauen und glatten Granit, man sieht schadhafte Stellen, vielleicht von Granateinschlägen aus dem Zweiten Weltkrieg, das Pflaster zu beiden Seiten ist gekonnt mit "regelmäßiger Unregelmäßigkeit" im Passée-Muster verlegt, es gibt jede Menge Parklücken zwischen den Trabis, Dacias und dem Lada voller glänzender Chromelemente und mit Extra-Nebelscheinwerfern, die Fassaden haben noch den alten Rauhputz, am Gebäude des Mitmachmuseums hängt noch das Bibliotheksschild. Das Bild zeigt den Stadtteil so grau und alltäglich, wie er in der Erinnerung vieler aussieht, der Mann mit der Teekanne verhält sich offenbar ungewöhnlich in dieser Szenerie. Auch wenn im Buch mit keinem Wort die DDR erwähnt wird, ist das Bedürfnis zu erkennen, ihr wenigstens als Clown zu entkommen, bzw. durch irrationales Verhalten gegen das Vorhersehbare des Erwachsenenlebens, das einen erwartete, zu protestieren.
Die Geschichte beginnt mit einem Ehestreit in der Wohnung der Patellas (der Begriff "Patella", der uns als Fußballgucker geläufig ist - obwohl heutzutage, glaube ich zumindestens, schon häufiger vom Syndesmoseband zu hören ist -, muß damals noch exotisch geklungen haben), vor dem Hintergrund von Gummibaum, Carat-Schrankwand, Altbau-Reko-PVC-Fußboden.
"Frau Patella war eine sehr ernsthafte Frau, die gern einen ernsthaften Mann gehabt hätte und nicht einen, der zum Frühstück die Kaffeekanne auf dem Kopf hereintrug und nach dem Frühstück einen Kopfstand auf dem Stuhl machte."
Es handelt sich um eine Paarkonstellation, auf die man in Literatur und Serien immer wieder trifft, und die mir in ihrer Selbstverständlichkeit heute zunehmend problematisch erscheint: der lustige, alberne, versponnene Mann und die vernünftige, etwas langweilige, Stichworte liefernde Frau. Seltsam, wie oft man diese Kombination in Popkultur, im Mythenschatz und in der Unterhaltungskunst trifft, ob bei Schnatterinchen und Pittiplatsch, Larry David und seiner Serien-Frau Cheryl (die ihn schließlich für einen Herrenunterhosenhersteller verläßt. Der hatte, als ihr Flugzeug abzustürzen drohte, und sie in Todesangst ihren Mann anrief, der aber in diesem Moment keine Zeit hatte, weil "the TiVo-guy" da war, um endlich den Fernseher zu programmieren, zufällig neben ihr gesessen), Karl Valentin und Lisl Karlstadt, Doug und Carrie Heffernan von "King of Queens", Fred und Wilma Feuerstein, Harald Juhncke und Grit Boettcher, etc. Es ist vielleicht eine Variation des Motivs vom herzensguten Mann und seiner bösen Frau, das man aus vielen Märchen kennt, und das, wie ich denke, sogar noch in der Bewertung von prominenten Paaren aus der Zeitgeschichte, wie Elena und Nicolae Ceauşescu wiederauftaucht (Nicolae galt in Rumänien mit den Jahren zunehmend als Trottel, der von seiner bösen, ehrgeizigen Frau manipuliert wurde), auch Erich Honecker war, so denke ich, bei einer Mehrheit weitaus weniger unbeliebt als seine Frau Margot.
Frau Patella will einen Liebesfilm gucken, während Herr Patella lieber mit ihr Halma spielen will und so lange Unfug macht, bis seine Frau sagt: "Ach, bleib, wo der Pfeffer wächst", was er, nach Art mancher Märchen, wörtlich nimmt, um sich genau dorthin auf den Weg zu machen, wobei er diesen Weg natürlich nicht kennt. Auf der Straße trifft er den "eiligen Mann", der auch auf dem Foto nur unscharf zu sehen ist und keine Zeit hat, weil er immer eine Stunde früher losgeht, um nicht zu spät zu kommen (der Mensch, der vor Gehetztheit sein Leben verpaßt, ein Topos im Industriezeitalter, offenbar auch schon in der "gemütlichen" DDR ein Thema). Er trifft eine alte Frau, die nach Jahren wieder in die Stadt gekommen ist, sich nicht mehr auskennt (das gab es damals auch schon) und ihren alten Hutsalon sucht (ironischerweise ist ausgerechnet ein Hut-Fachgeschäft eines der wenigen Geschäfte, das auf der Schönhauser Allee seit der Zeit vor der Wende bis heute überlebt hat). Herr Patella steigt auf das Dach eines Hauses und macht auf einem Schornstein einen Kopfstand. Auf dem Foto sieht man den Berliner Himmel über einem Wald von Prenzlauer-Berg-Schornsteinen, ein Bild, das mich mit seiner Romantik als Neubaukind am Altbau besonders angezogen hat, denn für das Dach von unserem Plattenbau brauchte man einen Schlüssel, den bei uns niemand hatte, und überhaupt war das Haus jünger als ich, während die Altbauten im Zentrum mit ihrer Substanz Vergangenheitsspeicher waren. Im Altbau führten Leitern zu Dachluken, die man aufstemmen mußte, man gelangte auf geteerte Dächer, auf denen man weite Wege zurücklegen konnte, um die verworrene Struktur der Hinterhöfe und Lichtschächte zu studieren, immer mit der Angst, durchzubrechen. Metallleiterchen führten auf gemauerte Schornsteine, an denen alte Antennen montiert waren (im Buch ist sogar schon eine Schüssel zu sehen). Manchmal stand hier oben auch ein Sofa, von dem aus man den Blick aus der Höhe auf die Straße genießen konnte, ein faszinierender Perspektivwechsel, man war den Blicken entzogen und hatte selbst den Überblick, eine Nische mitten in der Stadt. Es war für mich selbstverständlich, daß das Dach als eine Art Mastkorb und Antithese zu den verwinkelten Kellergängen, in denen man sich beim Kohlenholen praktisch noch im Bombenkrieg befand, zur Nutzfläche meines Hauses gehörte. Heute sind die Dachböden, wo aus Brandschutzgründen kein Gerümpel mehr stehen darf, meist verschlossen oder zu Eigentumswohnungen ausgebaut.
Herr Patella geht nun "der Nase nach" aus der Stadt heraus und schwimmt in seinen Sachen (um im Wasser nicht zu frieren) durch einen Fluß, immer noch wird er von allen, die ihm begegnen albern gefunden. Er flieht vor einer Kuh, die nicht mit ihm sprechen will, auf einen Baum, bekommt plötzlich Sehnsucht nach seiner Frau und beschließt, zurückzukehren. Vorher nimmt er sich aber noch vor, "der ernsteste Mann der Welt zu werden".
"Als erstes hörte er auf zu lächeln, dann ging er in einen Brillenladen, so ernst wie der Verkäufer wollte er auch aussehen." Er kauft sich in einem Herrenbekleidungsgeschäft einen Anzug, Hut und Schuhe. Er ist jetzt so ernsthaft, daß er sogar ein Eis ablehnt, das ihm ein Junge anbietet, der mit einem riesigen Hund an der Leine am Fensterbrett eines Eisgeschäfts lehnt (in dem man Nelken in einer Preßglasvase sieht, Spitzengardinen und ein Schild "Unser Angebot: Speiseeis, Früchte, Schlagsahne, Kaffee, Kuchen, Fruchtmilch, Spirituosen, Süßwaren", ein DDR-typisches Sortiment an Genußmitteln). Die alte Dame mit ihren Hutschachteln läßt er diesmal einfach stehen (solch eine runde Schachtel hatten wir auch, ein Objekt aus einer bürgerlichen Vergangenheit, wie der beliebte Hebammenkoffer, das überlange, weiße Herren-Nachthemd, das von Mädchen gefärbt und getragen wurde, und das KPM-Kaffeeservice.) Er rennt am eiligen Mann vorbei, für den er keine Zeit mehr hat, in seine Wohnung, wo seine Frau sich in der vermüllten Küche versteckt hat. Wir erkennen einen alten Omega-Staubsauger, eine Büchse Latex-Farbe, eine Rolle Alufolie (damals Mangelware, heute denke ich: sollte es eigentlich wieder sein), eine Kaffeemühle aus eloxiertem Alu vom VEB Elektroinstallation Oberlind, einen dreckigen Küchenmülleimer aus der Zeit vor den Mülltüten.
"Herr Patella umarmte seine Frau und sagte, 'ich bin ein ernsthafter Mensch geworden.'
'Das ist ja schrecklich.''
'Eigentlich wollte ich ja bleiben, wo der Pfeffer wächst, aber kein Mensch und keine Kuh konnten mir sagen, wo der Pfeffer wächst.'
Da lachte Frau Patella und merkte, daß ihr ernsthafter Mann immer noch albern war."
Auf dem hinteren Vorsatzpapier trinken beide auf dem Dach friedlich Kaffee und warten auf die Wende.
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