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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Eigentlich wollte ich nur Informationen über Bertil Almqvists "Die fröhlichen Steinzeitkinder" finden, ein Kinderbuch, das ich in meiner Kindheit geliebt habe, aber dann wurde die Sache ambivalent. Das Buch ist 1951 auf Deutsch erschienen, in einer Zeit, in der, seit dem Erscheinen von "Pipi Langstrumpf" im Jahr 1949 im Hamburger Oetinger-Verlag (Pipi war vorher schon von mehreren deutschen Verlagen abgelehnt worden) skandinavische Kinderliteratur den deutschen Kinderbuchmarkt positiv beeinflußt hat. Oetinger wurde auf diesem Gebiet zu einer Art Wegbereiter. Die Titel der Steinzeitkinder-Reihe erschienen in Deutschland im Gerhard-Stalling-Verlag Oldenburg, der bis 1945 110 Bände der Reihe Stalling-Bilderbuch herausgebracht hat. In der Weimarer Zeit hatte der Verlag eine eher zweifelhafte Ausrichtung (er veröffentlichte u. a. eine 40-bändige Reihe "Schlachten des Weltkrieges"), von der Zeit nach '33 ganz zu schweigen, deshalb mußte man bis 1948 warten, bevor man wieder eine Lizenz bekam und die Bilderbuchreihe fortsetzte, u. a. mit den "Steinzeitkindern". Die Bücher über die "Barna Hedenhös", die in Deutschland heute ziemlich unbekannt sein dürften (zur Zeit gibt es bei Amazon ein Exemplar für 375 Euro), sind in Schweden immer noch populär. Es gab aber auch eine Debatte über rassistische Stereotype in einem Steinzeitkinder-Band, in dem die Kinder nach Amerika reisen und auf dortige Urweinwohner treffen. Die Diskussion, ob man Kinderbücher sprachlich anpassen oder lieber mit Kommentar versehen soll, wurde und wird bei uns ja ziemlich heftig und angestrengt geführt. Von all dem habe ich als Kind natürlich noch nichts geahnt, wenn ich bei Freunden unserer Familie die beiden Bände las, die sie, vermutlich schon vor meiner Geburt, aus dem Westen geschickt bekommen hatten. Auf der letzten Seite stand verführerisch:
"Was Sten und Flisa, die fröhlichen Steinzeitkinder, sonst noch erlebten, werdet ihr in weiteren Bänden sehen, die der Gerhard Stalling Verlag in Oldenburg und Hamburg für euch vorbereitet. Ein ausführliches Verzeichnis aller Stalling-Bilderbücher schickt der Verlag jederzeit gern."
Das blieb ein schönes, aber für mich als DDR-Kind wertloses Versprechen. Daß die Steinzeitkinder in anderen Büchern zum Mond fliegen, oder an einer Olympiade teilnehmen, erfahre ich heute viel zu spät. Ich kannte nur den Band, den ich hier vorstellen will, und einen anderen, in dem sie nach Ägypten entführt werden, sich mit den Kindern des Pharaos anfreunden und schließlich die Kulturtechnik des Steine-zu-Pyramiden-Aufschichtens nachhause mitbringen. "Die fröhlichen Steinzeitkinder" ist von Karin von Merhart-Wallin, über die ich sonst nichts weiß, so gut übertragen worden, daß einige ihrer Verse in unser Familie zu stehenden Wendungen geworden sind. Es sind Schweifreime (aabccb), dasselbe Reimschema wie bei "Der Mond ist aufgegangen". Kinderbuchverse altern ziemlich schlecht, so wie überhaupt wenige Kinderbücher überdauern, verglichen mit der Menge an produzierten Titeln. Warum das, anders als in der Erwachsenenliteratur, so ist, kann ich mir nicht erklären, es wird jedenfalls schwer fallen, Kinderbücher von vor 100 Jahren zu finden, die man heute noch aus anderen als nostalgischen Motiven vorlesen möchte. Vielleicht liegt es daran, daß Kinderbücher stärker Moden unterliegen, bzw. daß sie bewußt oder unbewußt besonders viel Ideologie enthalten? Eine Steinzeitkleinfamilie aus Vater, Mutter, Tochter, Sohn, der Vater jagt, die Mutter kocht, der Sohn Sten hat Pfeil und Bogen und Steinbeile, die Tochter Flisa spielt mit einer Wurzelpuppe, genderkritisch gelesen fallen die Bücher eher durch. (Wobei heute im Spielzeug- und Kinderbuchbereich teilweise wieder steinzeitlicher gegendert wird als vor 40 Jahren.) Wenn ich mir allerdings überlege, was mich an den Büchern als Kind fasziniert hat, möchte ich die Erfahrung gerne weiterreichen. Die gar nicht dysfunktionale Kleinfamilie ist zwar eine Projektion in die Vergangenheit, aber mir gefiel die Abwesenheit von familientypischen Problemen. Die Kinder leben ein freies Leben, ohne Schule, ohne an der Ampel auf Grün warten zu müssen, ohne Abwasch, Atombombe und Tischsitten:
Hier, in ihrem Höhlenhaus,
sitzen alle vier beim Schmaus
um den Tisch aus Stein.
Weil Besteck noch nicht bekannt,
futtert man halt aus der Hand,
das war damals fein.
Daß die Steinzeitmenschen so aussahen, habe ich damals schon nicht geglaubt, schließlich hatten wir auch Bücher mit Illustrationen des Tschechen Zdeněk Burian, insbesondere "Menschen der Urzeit", und "Leben in der Urzeit", deren Bilder mir realistisch vorkamen, obwohl sie ja genauso Phantasieprodukte sind wie die Almqvists. Bei ihm sehen unsere Vorfahren zottlig, gebeugt und roh aus, man möchte ihnen nicht alleine im Wald begegnen, und es war verstörend, sich vorzustellen, daß ich, wenn ich nur intensiv genug Ahnenforschung betrieb, irgendwann auch auf Vorfahren von mir stoßen würde, die so furchteinflößend aussahen. Die "Steinzeitkinder" hätte ich mir dagegen ohne weiteres als Spielkameraden gewünscht.
Damals gab es auf der Erde
überhaupt nur WILDE PFERDE
Groß war Vater Bens Verlangen,
solch ein Pferd sich einzufangen,
ein noch junges, kleines.
Auf Schönhaar können die beiden Geschwister reiten, als sie darauf kommen, sich an seiner Mähne festzubinden. Doch dann wird Schönhaar in eine Deichsel eingespannt und soll Holz transportieren, weshalb sich das Tier nachts losreißt und verschwindet. Der Hund Urax spürt es gemeinsam mit den Kindern auf und sie reiten durch den Wald zurück, wo sie Zeugen einer Szene werden, die auf einer beeindruckenden Doppelseite gestaltet ist. Zwei Dutzend Pferde bilden eine Art Wagenburg um ihre Fohlen, indem sie sich auf die Vorderbeine stellen und mit den Hinterbeinen nach einem Rudel wilder Hunde ausschlagen. Die Gefahr durch die Hunde, die gemeinsame Strategie der Pferdeeltern, die Haare, die Schönhaar, Urax, Sten und Flisa vor Schreck hoch zu Berge stehen, das Bild übte eine große Faszination auf mich aus. Bewegung kam in die Handlung, ganz klassisch, durch die Hybris der Helden, denn die Kinder bestürmen ihren Vater, ihnen auch noch ein Schweinchen zu besorgen:
Ja, der Vater war bescheiden,
aber nicht so unsre beiden,
Flisa und der Sten.
Auch ein Schweinchen, rund und prall,
möchten sie in ihrem Stall
gar zu gerne sehn.
Der Vater kann nicht Nein sagen (Nein aus Liebe!), wird beim Diebstahl des Schweinchens entdeckt und rennt, mit dem "Wuz" unter dem Arm, von Wildschweinen verfolgt, zum Höhlenhaus, wo Mutter und Kinder schon die Baumstammleiter aufs Dach klettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Diese Sicherheitsarchitektur hat mich als Kind überzeugt, und immer wieder sah ich mir an, wie die Familie den Schweinen entkommt und vom Dach aus zusieht, wie Urax, Schönhaar und die Auerkuh die Wildschweine vertreiben.
Aber weil die Schweine grollten,
daß sie wiederkommen wollten
in noch größren Haufen,
schrie der Vater: "Marsch, zum Strand!
Jeder nimmt was in die Hand,
***** laufen
(die letzte Zeile ist in meinem Exemplar von Berührungen abgegriffen und nicht mehr zu entziffern)
Wieder gibt es eine Fluchtszene, die Familie sitzt im Einbaum, Vater und Mutter rudern, Auerkuh und Schönhaar schwimmen und die Wildschweine können ihnen nicht folgen.
Und am Ufer, ganz alleine,
grunzten die betrübten Schweine,
und manch zornerfülltes Schreien
hörte man aus ihren Reihen!
Schadenfroh klang Urax Bellen
Schönhaars Wiehern aus den Wellen,
bloß das Schweinchen quiekte leise
ob der wunderlichen Reise.
Heute berühren mich natürlich vor allem die Gefühle des entführten Wildschweinkinds, die mir als Kind noch keinen Gedanken wert waren. Die Familie läßt sich, was ich wiederum überzeugend fand, auf einer unbewohnten Insel nieder, wo man ja automatisch in Sicherheit war.
Rudernd auf dem weiten Meer
fuhr nun Vater Ben umher,
suchte neues Land.
Bis nach vielen, vielen Stunden
eine Insel ward gefunden,
damals HOLM genannt
Mit dem STOCK zog sich sodann
Papa Ben ans Ufer ran,
alles stieg jetzt aus.
STOCK-HOLM nannten sie den Ort,
und hier fühlte sich sofort
jeder ganz zu Haus.
Ich weiß nicht, ob ich diesen Ursprungsmythos der Stadt Stockholm geglaubt habe, es war aber eine überzeugende Vorstellung, daß ein Städtename so entstanden sein könnte. Papa Ben wird jetzt zum Fischer, die Kinder spielen mit den großen Kieselsteinen, die es hier reichlich gibt, und das neue Blockhaus und der Stall haben geometrische Formen und Flachdach. Die Familie hat sich sozusagen selbst zivilisiert. Wobei ich beim Vorlesen darauf hinweise, daß es ja ungerecht ist, wenn die Mutter kocht und putzt und der Vater fischen darf.
Mama Knuta aber nutzte
auch die Zeit: sie kochte, putzte,
flickte Risse in den Fellen
und hielt Ordnung in den Ställen.
Plötzlich rief sie: "Welch ein Graus!
Kinder, wie seht ihr denn aus!
Wirklich, man muß sich ja schämen
über eure wilden Mähnen!"
Und dann zauste sie die Schöpfe
und flocht eifrig viele Zöpfe.-
"Soo!" sprach sie mit stolzem Blick,
JETZT seid ihr für Stockholm schick.
Das neue Erscheinungsbild der Kinder (auch Pferd und Hund haben Zöpfe bekommen) kam mir wie eine unpassende Verkleidung vor, nicht einmal ich mußte mich in meiner Kindheit noch regelmäßig kämmen und schon gar keinen Scheitel. Ich habe den Test gemacht, meinen Kindern gefallen die Steinzeitkinder gescheitelt und mit Zöpfen auch nicht besser als vorher.
Als Jugendlicher sah ich im Berliner Centre Culturel Français, dem ersten und einzigen westlichen Kulturinstitut in der DDR, dessen Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann, Jean-Jacques Annauds "Am Anfang war das Feuer" (1981), ein Film über Urmenschen, die noch gar nicht sprechen können. Das war eher die Verfilmung von Burians Visionen als die meiner Steinzeitkinder. Aber die entscheidende Szene des Films war für mich die Erfindung des Lachens aus dem Geist der Schadenfreude. Ein Mädchen, das aus einer kulturell weiter entwickelten Horde entführt wurde, bekommt einen Lachanfall, als einem Zottelmann ein Stein auf den Kopf fällt, die anderen schauen sie entgeistert und geradezu verängstigt an, weil sie noch nie jemanden lachen gesehen haben. Bei nächster Gelegenheit ahmt ein anderer Zottelmann den Vorgang nach, läßt einem seiner Kameraden einen Stein auf den Kopf fallen und lacht sich kaputt.
Inzwischen hat sich der Humor mancher Menschen verfeinert.
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