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Literatur

Heiterkeit und das Bewußtsein meiner Bevorzugung

Heiterkeit und das Bewußtsein meiner Bevorzugung

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtSamstag, 23.12.2017

1964 schreibt Erika Mann an ihre Schwester Monika, die eine Anthologie mit Texten aller schreibenden Mitglieder ihrer Familie plant ("Wir sind elf"), daß das eine abwegige und geschmacklose Idee sei und daß sie aufhören solle, Unwahrheiten über die Familie zu verbreiten. Zum Beispiel in einem jüngst erschienenen Text über Weihnachten bei den Manns, wo sie behauptet habe, das Rauschgold sei den Kindern zu Weihnachten in die Hand gestreut worden, nein, es wurde in die Betten gestreut! So ein gereiztes Ringen um Beziehungsdominanz kann, wenn man davon als Außenstehender liest, höchst unterhaltsam sein und lenkt von der eigenen Familie ab. Deshalb ist Tilmann Lahmes Buch "Die Manns – Geschichte einer Familie" die ideale Lektüre für die Weihnachtszeit. Über einen verklatschten und dabei flotten Artikel über Thomas Manns Familienleben, der 1944 im New Yorker erschienen ist, schreibt Lahme: "Ein Porträt, das Thomas Mann mit Vergnügen läse, wenn nur nicht von ihm die Rede wäre." Dasselbe gilt auch für Lahmes Buch, wenn es nicht um sie selbst gehen würde, würden die Manns es vermutlich alle mit Vergnügen lesen.

Ab und zu werde ich rückfällig und befasse mich wieder mit dieser Familie, die sich selbst "amazing familiy" nannte und informiere mich mit gieriger Neugier über Dinge, die ich eigentlich gar nicht wissen müßte. Gehört es zum Bildungskanon, Thomas Manns Kinder und vielleicht sogar seine Geschwister und angeheirateten Verwandten aufzählen zu können und zu wissen, von wem es Bücher gibt und über wen Biographien geschrieben worden sind? (Oder sie sogar gelesen zu haben? Die Memoiren vom Lieblingsenkel Frido kenne ich noch gar nicht.) Ist das alles wirklich nur deswegen interessant, weil es mit Thomas Mann zu tun hat (angenommen, man schätzt seine Bücher)? Das wird man nicht entscheiden können. Er selbst war bis ins Tagebuch hinein ein Autor für seine Fans, jede gelungene Formulierung ist bei ihm eine kleine Transsubstantation von Leben (=Leid) in Kunst (=Sinn). ("Das alte Hausmittel" nannte es Goethe). Tilmann Lahme geht bei seinem Familienporträt wie ein Mann am Scheinwerferspot vor, der den Lichtkegel rastlos zwischen den einzelnen Akteuren hin und her bewegt (vor allem in den Jahren von 1922 bis 1950), überall gleichzeitig kann man leider nicht sein und die Sichtweise von jedem Einzelnen auf dieselben Vorfälle kann man nicht wiedergeben. Es wäre aber möglich, denn überwältigend viel ist dokumentiert in Briefen, Tagebüchern, Büchern und auf Fotos. (Vier von sechs Kindern waren beim Familienpsychiater Erich Katzenstein in Behandlung. Leider sind diese Sitzungen nicht auch protokolliert worden - oder doch?) Ende 2012 sind im Züricher Thomas-Mann-Archiv 3000 Briefe von Familienmitgliedern aufgetaucht, die dort jahrelang unentdeckt lagen, und die Lahme für sein Buch einsehen konnte. (Nicht auszudenken, wenn die Manns eine WhatsApp-Gruppe gehabt hätten!) Es kann überhaupt nicht darum gehen, als Fremder die Wahrheit über eine Familie ergründen zu wollen, Wahrheit ist für Familien keine relevante Kategorie. Es geht in Beziehungen nicht darum, Recht zu haben, sondern wie es sich für die Beteiligten anfühlt.

Neben der Geschichte der Manns oder Details aus der Zeitgeschichte (z.B. daß 1935 allen Berliner Arbeitern für die Hochzeit von Göring eine "Spende" vom Lohn abgezogen worden ist) interessiert mich persönlich die Organisation von Arbeit und Leben bei anderen Autoren. Thomas Manns Modell studiere ich immer mit Neid, Staunen und Entsetzen. Alles, was die Kinder und das Haus betrifft, ist natürlich Sache der Mutter. (Thomas Mann schickt den Lieferboten mit den gereinigten Anzügen bei der Abwesenheit seiner Frau weg, weil er nicht weiß, wo er im Haus Geld finden kann.) Katia Mann muß ihrem Mann "seinen Arbeitsfrieden sichern". (Was schwer ist bei sechs Kindern und wenn die Arbeit in einem zentralen Raum des Hauses mit zudem vier Hausangestellten stattfindet.) Nur etwas in der Kategorie eines zweiten Nobelpreises könnte Katia bewegen, Thomas bei der Arbeit am Vormittag unterbrechen zu lassen. Jedesmal, wenn ein Kind in der Schule Ärger macht (was bei fast allen der Fall ist) wird es ins Internat gesteckt. (Die Verantwortung abgeben, eine Tradition die sich bei den Kindern fortsetzt. Sohn Michael und seine Frau Gret sind oft verreist und überlassen die beiden Söhne dann den Eltern. Einmal fahren sie ganze 1 ½ Jahre durch Asien und Indien und sehen ihre Söhne erst mit 14 und 12 Jahren wieder.) Egal, was auf die Eltern einstürzte, nebenbei wurden von Thomas eisern Romane geschrieben, von den Erzählungen und Novellen gar nicht zu reden. (1943 beendet er nach 17 Jahren den "Joseph". "Ein Monument der Beharrlichkeit", schreibt er im Tagebuch, immerhin sei er damit früher fertig geworden "als die Welt mit dem Fascismus". Die Arbeit hatte oft unterbrochen werden müssen. Unter anderem, um die "Novelle" "Lotte in Weimar" zu schreiben. Ein Autor wie Thomas Mann unterbricht sein Schreiben eigentlich nur zum Schreiben.) Er hatte es aber auch nicht leicht, spätestens nach dem Nobelpreis war Thomas Mann eine international bedeutende Persönlichkeit, deren politische Äußerungen genau wahrgenommen wurden und für Wirbel sorgen konnten. Eigentlich hätte er einen Berater und einen PR-Manager gebraucht, wie sie heute Fußballspieler beschäftigen. (Bei ihm waren das Katia und die Kinder, die nicht immer derselben Meinung waren, aber versuchten auf ihn einzuwirken.)

Die Zuneigung der Eltern zu ihren Kindern wurde ganz offen ungerecht verteilt, was niemand in dieser Familie in Frage stellte. Es gehört vielleicht auch zur Bildung zu wissen, welche seiner Kinder Thomas Mann liebte und welche nicht. (Über Michael schreibt er: "Stelle immer wieder Fremdheit, Kälte, ja Abneigung gegen unseren Jüngsten fest.") (Die nächste Stufe: auch zu wissen, wie Katias Zuneigung sich aufteilte, nämlich anders. Wobei Monika bei allen durchfiel.) Zu allem Unglück für die Kinder schreibt der Vater alles ziemlich schwach verklausuliert in seine Texte (und liest es, wie auf dem Bild, der versammelten Familie vor.) Ein schlechtes Gewissen hatte er immerhin und die Verärgerung der Porträtierten mußte er oft aushalten, aber die Texte waren es ihm wert. In "Unordnung und frühes Leid", einer seiner wundervollen Erzählungen, durfte z.B. Klaus sich in Bert wiedererkennen: "Mein armer Bert, der nichts weiß und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen, obgleich er gewiß nicht einmal dazu Talent hat." (Während Golo beleidigt war, im Text nicht vorzukommen. Klaus und Golo sind sich später einig über das Schreiben des Vaters: "Einseitigkeit der Themen, bei größtem Reichtum der Ausführung.") Dafür widmet er Klaus ein Exemplar des Zauberbergs: "Dem hochgeschätzten Kollegen – sein hoffnungsvoller Vater" (und Klaus setzt die Widmung als Werbung für sich ein, um sich immer wieder zu beklagen, daß er stets nur als Sohn Thomas Manns wahrgenommen werde.) Ziemlich hart, aber wohl auch ziemlich zutreffend scheibt Klaus in sein Tagebuch: "Ob wohlwollend oder gereizt (auf eine sehr merkwürdige Art 'geniert' durch die Existenz es Sohnes): niemals interessiert; niemals in einem etwas ernsteren Sinn mit mir beschäftigt. Seine allgemeine Interesselosigkeit an Menschen, hier besonders gesteigert." Seinen neuen Freund, der Thomas heißt, kann Klaus unmöglich so rufen und nennt ihn "Tomski".

Andererseits, der arme Vater muß ja die vielen Bücher seiner Kinder (Klaus Mann schreibt "Kind dieser Zeit", seine ersten von drei Memoiren, mit 25 Jahren) lesen und möglichst behutsam kommentieren, ohne sich dabei um eine ehrliche Einschätzung zu drücken. Und wenn Klaus Mann dasselbe macht wie sein Vater, seine Umgebung literarisch zu ermorden, muß Thomas Mann schlichten, so als der Schuldirektor sich in Klausens erster Erzählung wiederfindet, wo er sich einer Schülerin sexuell nähert. Thomas Mann schreibt dem Direktor: "Auch stehe ich der Publikation seiner Elaborate durchaus fern und bin nur dadurch daran beteiligt, daß ich sie nicht verhindert habe." (Pierre Bertaux, Sohn eines französischen Germanisten, der mit Golo befreundet ist, schreibt seinen Eltern einmal: "Die Manie der Familie Mann ist nicht so sehr die des Schreibens wie die des Veröffentlichens.")

Es ist immer etwas los bei den Manns. 1925 hat Thomas Mann einen Nervenzusammenbruch, weil er sich auf Besuch bei den Schwiegereltern mit ihnen über Schopenhauer gestritten hat. Ein Internatsfreund von Golo hat im Haus der Manns im Bett der Eltern Sex mit einem jungen Mann vom Münchner Straßenstrich. Klaus und Erika tauschen sich brieflich über ihren Drogenkonsum aus, sie nennen es "das kleinbürgerliche Laster". Über einen neuen Geliebten und Arzt schreibt Erika an Klaus: "Die häßliche Bockbeinigkeit in Bezug auf seine Arzteswürde hat er sich einstweilen abgewöhnt. Er teilt mit Maßen seine Gaben aus, wobei er manch neue und drollige Erfindung macht." Klaus Mann schreibt eine Erzählung, in der ein junger Mann (der seine Züge trägt), mit einer Witwe schläft, über deren Bett die Totenmaske ihres Mannes hängt (die Thomas Manns Züge trägt). Die Tradition, sich in Briefen scharfzüngig und mit Witz über Mitmenschen lustig zu machen, geht bei Katia Mann schon auf ihre Mutter zurück. Damals war es aber noch eine bürgerliche Kunst, in Briefen auf hohem Niveau zu formulieren. (Katia Mann beobachtet auf Sylt einen Berliner Kaufmann "mit zehn offenbar ohne jede Wollust gezeugten Kindern".)

Tilmann Lahme nimmt den Ton genüßlich auf und man freut sich als Leser an vielen Stellen über seine lakonischen Kommentare und die klaren Urteile über Fehlleistungen (wie Thomas Manns notorisch falsche Einschätzungen der politischen Lage.) Golo, der später Franz-Joseph Strauß' Kanzlerkandidatur unterstützte, war in der Jugend leidenschaftlicher Sozialist und arbeitete eine Zeitlang in den Niederlausitzer Kohlenwerken, um das Leben der Bergleute kennenzulernen. Lahme schreibt: "Die wenigen Arbeitswochen Golo Manns im Bergwerk in der Niederlausitz: Das einzige Mal, jemals, daß ein Mitglied der Familie Thomas Mann eine bezahlte körperliche Arbeit übernimmt." (Golo wird auch der erste in der Familie sein, der einen Studienabschluß vorweisen kann. Und dafür von den Eltern ein Auto geschenkt bekommt.)

Thomas Mann wird jeden Herbst nervös, weil er mit dem Nobelpreis rechnet. Als er 1929 im Vorfeld der Bekanntgabe Gerüchte hört, daß der Autor Arno Holz den Preis bekommen soll, schreibt er eilig an Gerhart Hauptmann, um das zu verhindern. Europa würde sich "voller Verständnislosigkeit an den Kopf greifen." Holz stirbt kurze Zeit später, Thomas Mann erhält den Nobelpreis und spricht in einem Interview am Tag nach der Bekanntgabe von den "Schatten der Melancholie" einer solchen Ehrung. "Hatte nicht gerade Arno Holz ein Recht auf die Auszeichnung? Sein Tod berührt mich doppelt schmerzlich in diesem Zusammenhang."

Erika Mann erfindet die Geschichte, wie sie unter Lebensgefahr das Joseph-Manuskript aus der von der Gestapo bewachten Münchner Villa gerettet hat. (Golo in seinen Erinnerungen: "Von allen ihren Lebensleistungen wohl die bedeutendste.") Golo schickt tatsächlich die Tagebücher des Vaters (die ihn später bei der Lektüre schrecklich quälen) in die Schweiz, wo sie lange nicht ankommen, für Thomas Mann eine Höllenqual. Ohne die Veröffentlichung seiner Tagebücher wäre er vielleicht in der Klassikerecke verstaubt. Hier schreibt er alles, was andere Autoren leider weglassen, z.B. daß die neue Zahnprothese nicht richtig sitzt, hier notiert er im Exil "Schlafprobleme, Beruhigungstabletten, Weinkrämpfe" und hier läßt er den schönen Satz fallen: "Ich brauche Heiterkeit und das Bewußtsein meiner Bevorzugung." Golo wird derweil Augenzeuge der Berliner Bücherverbrennung, wo die Werke seines Onkels und seines Bruders verbrannt werden und einer der Umstehenden sagt: "Schade, daß wir sie nicht selber haben." Waldemar Bonsels, der Autor der Biene Maja (1912) war auch ein Opfer der Bücherverbrennung, kann aber nachweisen, daß er ein aufrechter Antisemit ist und wird rehabilitiert. Ab 1937 dürfen Thomas Manns Bücher in Deutschland nicht mehr verkauft werden, während "Die Biene Maja und ihre Abenteuer" in diesem Jahr zum Bestseller wird.

Viele der im Archiv neu aufgetauchten Briefe sind nebenbei Bettelbriefe der Kinder an ihre Mutter, weil ihnen die fixe monatlichen Überweisung nicht genügt und sie ständig Schulden begleichen müssen. 1938 teilt Michael der Mutter brieflich seine Weihnachtswünsche mit:

"Lederhandschuhe, eine Joppe, Pantoffeln, einen Seidenpyjama, feine Taschen- und Halstücher, eine Notenmappe (eine "schöne"), einen Notenständer, ein Grammophon, einen Geigenkasten, ein elektrisches Metronom, einen neuen Füllfederhalter, eine Armbanduhr, ein Feuerzeug, 'Soir de Paris' (ein Parfüm), einen arabischen Teppich, ein Zigarettenetui …"

Die schöne Tradition der Weihnachtspost. Eltern freuen sich immer, etwas von ihren Kindern zu hören!

Allen Lesern ein frohes Fest!

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