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Quelle: Die Profis - Ein Jahr Fußball mit Paul Breitner und Uli Hoeneß
Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Noch am Vormittag hatte ich selbst Fußball gespielt, mit einem Gumminachbau der WM-Ball-Replik. Ich versuchte, es so einzurichten, daß ich den Ball nicht zu oft aus dem Gestrüpp in der hinteren Ecke des Spielplatzes holen mußte, weil die Kinder dort ihre Pinkelecke haben und es immer etwas müffelt. Wenn der Ball über das Tor flog, wurde er mir nicht von Balljungen zurückgeworfen, sondern ich mußte über den Zaun klettern, während der Schütze in der Zwischenzeit zur Bank lief und von seiner Reiswaffel abbiß.
Mit Kindern erkundet man unfreiwillig Zeiträume des Tages, die man nie kennenlernen wollte, z.B. den frühen Sonntagvormittag, noch dazu wenn die idiotische Zeitumstellung (wer braucht im Herbst hellere Morgen und dunklere Nachmittage? Sollte es nicht umgekehrt sein?) den Vormittag noch verlängert hat, weil zwar die Uhr umgestellt wurde ("Kommt da wer in die Wohnung?") aber nicht das Kind. Nachdem ich also schon stundenlang wach und längst wieder reif fürs Bett war, fuhr ich zur Matinée im Deutschen Theater, wo Gregor Gysi regelmäßig mit Zeitgenossen spricht, heute mit Uli Hoeneß. Im DT werde ich immer nostalgisch, weil ich hier als Oberschüler so viele Abende verbracht habe, seit ein paar Jahren gehe ich aber kaum noch (bzw. gar nicht mehr) ins Theater, irgendwie ist mir das abhanden gekommen. An einem Sonnabend im Monat wurden damals die Karten für den nächsten Monat verkauft, dann stellte man sich vormittags in die lange Schlange und deckte sich ein, meistens traf man Bekannte, die ebenfalls in der Schlange standen. Man kaufte sogar Karten auf Verdacht, falls noch jemand mitkommen wollte, es kostete ja nicht viel. Inzwischen sind die wenigen Inszenierungen, die mich interessieren, eigentlich immer ausverkauft und ich habe nicht mehr die Nerven, trotzdem hinzufahren und anderen Besucher nach einer Karte anzuquatschen.
Ich genoß also nach längerer Zeit wieder einmal den großen Saal des DT, die praktischen Klappsitze, den roten Samt, den ich nicht selbst reinigen mußte, den Deckenleuchter, der hoffentlich nicht runterfallen würde. Pünktlich um 11 betrat Gregor Gysi die Bühne und öffnete eine Papptür, durch die Uli Hoeneß hereinkam, der erstaunlich groß ist. Sofort ließ sich im Parkett ein einzelner, energischer Buh-Rufer hören, zum Glück saß er nicht neben mir, das wäre mir doch peinlich gewesen. So ein Buh-Rufer war früher, was heute eine Amazon-Leserkritik ist, die Stimme eines Einzelnden, die den Applaus eines ganzen Saals übertönt und im Gedächtnis bleibt.
Wahrscheinlich war der Grund für seinen Unmut die Steueraffäre, die natürlich auch zur Sprache kommen mußte. Es fühlte sich fast an wie in alten Zeiten in der DDR, als es im Publikum immer knisterte, wenn in einem Stück von Shakespeare von einer "Mauer" die Rede war, oder wenn bei Euripides irgendetwas "ausverkauft" war, dann wußten alle, daß eigentlich "wir" gemeint waren und freuten sich. Heute war das Reizwort "Geld", wenn dieses Wort fiel (bei Hoeneß natürlich nicht selten), glucksten die Zuschauer. Ich hatte mich zum Thema eingearbeitet, indem ich die Doku-Fiction des ZDF
https://www.youtube.com/watch?v=r9BtmVGk_q0
gesehen hatte, in der der Prozeß nachgespielt wurde. Schön trashig die Darstellung von Robert Stadlober als junger Hoeneß. Inzwischen wirkt der ganze Fall schon wieder historisch, weil Uli Hoeneß die Gefängnisstrafe hinter sich gebracht hat (er sei dort ein guter Tischtennisspieler geworden, sagte er) und wieder Bayern-Präsident ist (mit Honecker-würdigen 98% der Stimmen). Ich denke, er würde auch für die CSU die absolute Mehrheit in Bayern zurückholen, wenn er als Spitzenkandidat antreten würde.
Gysi stellte freundliche Fragen und kokettierte ein bißchen mit seiner Ahnungslosigkeit, was Fußball betrifft, er hatte sich extra von Hans Mayer beraten lassen, und Hoeneß wirkte sympathisch und durchaus etwas verunsichert in dem Theater-Ambiente, er hat zwar in Baden-Württemberg Abitur gemacht (das in Bayern damals automatisch von 2,4 auf 3,4 abgewertet wurde, weshalb er nicht BWL studieren konnte, sondern sich für Englisch und Geschichte auf Lehramt einschrieb), aber mit Kultur hatte man es bei ihnen zuhause nicht so, das gibt er offen zu, er habe als Junge nur Fußball im Sinn gehabt.
Daß er sich gerade mit seinem alten Freund Paul Breitner entzweit hat, deutete er an, Breitner hat ihn für sein unfaires Nachtreten gegen seinen Ex-Spieler Bernat gerügt. (Und deshalb ist er nicht mehr sein Freund?) In "Die Profis", einer erstaunlichen Fußball-Dokumentation von 1979,
https://www.youtube.com/watch?v=wQw80HhPcN0
sieht man sie noch beim Trainingslager das Hotelbett teilen. Tatsächlich fällt es schwer, diesen charmanten, schlagfertigen Mann mit dem zusammenzubringen, der regelmäßig austeilt, um die Medien zu füttern oder um den Gegner im entscheidenden Moment zu verunsichern, oder weil er nicht anders kann. Vielleicht mögen es die Menschen, daß er so spricht, als hätte er keinen Medienberater wie seine Spieler. Sieht man sich noch einmal die Diskussionsveranstaltung mit Christoph Daum von 1989 im "Aktuellen Sportstudio" an
https://www.youtube.com/watch?v=aO27lkFlhBE
dann möchte man Hoeneß nicht zum Gegner haben. Wobei Jupp Heynckes sogar noch furchteinflößender guckt.
Die soziale Ader, die er an sich gerne hervorhebt (und an der ich keinen Zweifel habe), daß er den FC Bayern nicht als Unternehmen, sondern als Familie betrachtet, daß er seinen verdienten Ex-Spielern die Treue hält, das macht ihn zu einem patriarchalischen Unternehmertyp des 19.Jahrhunderts, die ihren Arbeitern menschenwürdige Häuser bauten, ihnen aber im Gegenzug verboten, in die Gewerkschaft einzutreten. Man übernahm die Aufgaben des Staats lieber selbst, statt sein Geld als Steuer zu verschwenden. Im globalen und anonymen neoliberalen Kapitalismus, und natürlich auch im kommerzialisierten Fußball (das Fußballgeschäft hat sich inzwischen komplett verändert, 1974 durften die Frauen der Spieler nach dem WM-Sieg noch nicht mitfeiern, heute, so Hoeneß, wäre es eher denkbar, daß nur die Frauen feierten) weckt so eine unternehmerische Persönlichkeit bei vielen offenbar nostalgische Gefühle. Die Art, wie er Unterordnung mit Loyalität belohnt, das Menschliche repräsentiert (Rummenigge nannte ihn "die Seele des Vereins", würde man bei der Telekom oder bei Adidas eine Seele erwarten?), Konkurrenten aber Signale der Stärke sendet
https://www.youtube.com/watch?v=o16uXlx5-5I
, erinnert mich auch ein wenig an Tony Soprano. Wie dieser hat er klein angefangen und täglich dazugelernt, inzwischen führt Hoeneß als unternehmerischer Autodidakt ein global agierendes Unternehmen. Wie fühlt sich das an, als Metzgerssohn mit den Bossen von Allianz, Audi und Adidas Sitzungen abzuhalten?
Ich hätte mir von Gysi mehr Nachfragen zu Hoeneß' Vorstellungen von Gesellschaft erhofft, er hat sich ja sehr echauffiert, als es darum ging, die Logenplätze (ca. 10000 Euro im Jahr) in der Allianz-Arena zu verteidigen, mit denen die Stehplätze (150 Euro im Jahr) finanziert würden.
https://www.youtube.com/watch?v=Udk9oMJRuKY
Diese Sichtweise auf Gesellschaft, daß die Reichen sich ihren Reichtum ehrlich verdient haben und den Ärmeren großzügigerweise ein Leben in Würde subventionieren, scheint mir doch fragwürdig. Man müßte schon fragen, warum sich viele im Stadion nur die billigen Plätze leisten können, ob das vielleicht auch mit dem Reichtum der Reichen zu tun hat? (Das würde Hoeneß als "Neiddebatte" abtun.) Es ist, wie Nietzsche sagt: Kein Sieger glaubt an den Zufall. Gysi fragte aber nicht nach, das Gesprächsformat im DT scheint eher darauf angelegt, dem Gast ein Forum zu geben, sich so zu präsentieren, wie er es möchte, was ja auch legitim ist. Interessant war also nicht so sehr, ob Gysi Hoeneß etwas fragte, was er sonst nicht gefragt wurde, sondern wie gut die beiden sich offenbar verstanden. Gysi behauptete, auf Hoeneß zugegangen zu sein, als ihn alle schnitten und Hoeneß sagte, er bedauere, Gysi nicht früher kennengelernt zu haben (woran durchaus politische Vorurteile schuld gewesen seien.) Am Schluß sagte Gysi, Menschen wie Hoeneß seien eine Bereicherung für das Land und Hoeneß freute sich über den Schlußapplaus und sagte: "Ehrlich gesagt, ich vermisse den Buh-Rufer." Nicht erst da zeigte sich, daß er auf der Bühne Gespür für das Publikum hat und unterhaltsam ist, ob er sich nun über Niederlagen oder Kritik ärgert (und uns Gelegenheit für Schadenfreude gibt) oder über einen seiner Coups frohlockt, wenn er Andeutungen macht oder wie entfesselt poltert. Weil wir Fußballfans alle am Tropf der Medien hängen und kaum jemand "Interna" kennt, ist alles, was Hoeneß sagt, eine Nachricht.
Nach der Matinée ging es nach Hause, wo wir das Fußballtraining wieder aufnahmen. Dabei sind wir gar nicht sicher, ob wir unseren Sohn wirklich zum Vereinstraining schicken sollten. Bei mir wirkt mein Trauma nach, daß ich selbst nie im Verein gespielt habe und dadurch mein Leben lang benachteiligt bin. (Bei meinem einzigen Besuch bei einem Training waren alle anderen 1-2 Jahre älter und ich durfte nicht mitspielen. Das war auch besser so, weil der Jugendtrainer allen eine Position zugewiesen hatte, und ich die Begriffe dafür nicht kannte. Obwohl natürlich am Ende alle durcheinander rannten.) Es ist ja ein klassischer Elternfehler, auf seine Kinder unerfüllte Wünsche aus der eigenen Kinderzeit zu projizieren. Manchester-Ikone Denis Law sagte kürzlich:
"Meine Eltern haben mir gesagt: 'Wenn dich jemand tritt, tritt zurück. Wenn du es nicht machst, wird er es wieder tun.' Also habe ich es gemacht." Da das nicht unsere Denkweise ist, überlegen wir, ob wir ihn nicht eher auf Kinder-Yoga umpolen sollten, aber er will unbedingt Fußball spielen (nur nicht so gern mit anderen zusammen.) Einmal waren wir schon in einem Verein. Die Trainer wirkten sympathisch, aber als es hieß: "Wer von euch war denn letzte Woche brav? Der kriegt ein gelbes Leibchen. Und wer die Übung jetzt am besten macht, ich werd genau hinsehen, der darf am Ende aufs Tor schießen." Uli Hoeneß hätte sich hier natürlich durchgesetzt und aufs Tor schießen dürfen, aber ich wäre froh, wenn unsere Gesellschaft sich dahingehend entwickeln würde, daß man in Zukunft weniger Uli-Hoeneß-Eigenschaften braucht, um erfolgreich zu sein, bzw. wenn Erfolg nicht mehr darin gesehen wird, sich in irgendeinem Konkurrenzkampf, womöglich durch Treten, durchgesetzt zu haben. Vielleicht wäre aus dem kleinen Uli Hoeneß dann nicht der große Uli Hoeneß geworden, sondern ein ganz anderer, den er und wir nie kennengelernt haben.
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Mein Opa hat Hoeneß nie gemocht. „Die Bayern, die kaufen den ganzen Fußball kaputt“, hat er mir schon früh klargemacht. Über deinen Text hätte ich gern mit ihm diskutiert, deine verlinkten Fundstücke machen den piq doppelt wunderbar.
Kinderfussball ist eine knifflige Sache, gerade auch wegen Eltern. Meine haben sich glücklicherweise bei den Spielen immer zurückgehalten, aber ich konnte mich häufig fremdschämen für die Mütter und Väter meiner Mitspieler. Ich bin gespannt wie das beim Kinder-Yoga ist, „hau ihn um“ wird da wohl eher nicht gerufen. Mein jüngster Bruder hat vor einigen Jahren den Basketball für sich entdeckt, auch ein harter Sport, aber ich habe den Eindruck, das Teamgeist und Fairness dort eine größere Rolle spielen.
Ach ja, danke für den wunderbaren piq!