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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Kinder, zumal Kleinkinder oder Babys, als Wesen gesehen wurden, über die man Gespräche führt oder sogar nachdenkt. In Literatur und Malerei tauchen sie bis zum 18.Jahrhundert kaum auf. Heute schlägt das Pendel in die andere Richtung, der erwachsende Mensch ist ein wehrloses Opfer seiner Kindheit, das Unheil beginnt immer früher. Wer ein seelisch gesundes Kind haben will, muss für eine sanfte Geburt sorgen und möglichst schon im Bauch Kontakt zum Kind aufnehmen, wobei eventuell schon mit den Umständen der Zeugung alles verdorben ist, bzw. das Leben der Großelterngeneration sich negativ auswirkt, auf das man leider keinen Einfluss mehr hat. Die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend, auch aus hirnphysiologischer Sicht, weil sich die wichtigen Synapsenverbindungen im präfrontalen Cortex herausbilden. Als bestes Gehirntraining dienen unendlich viel Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung. Ein Kind ist für die Eltern eine Einladung, sich im engsten Familienkreis um das Wesentliche zu kümmern und von der großen Welt abzuwenden. Man kann frühere Vätergenerationen nur bedauern, dass sie noch nicht die Möglichkeit dazu oder das Interesse daran hatten. Es ist allerdings auch ungeheuer kräftezehrend, sich ständig zwischen begeistertem Entzücken und kompletter Überforderung zu bewegen. Die narzisstische Homöostase des Junggesellen ist nachhaltig gestört. Ein frühes Beispiel für die Verarbeitung des Schocks, Nachwuchs zu bekommen, bietet ausgerechnet Thomas Mann - das Oberhaupt einer der berühmtesten dysfunktionalen Familien - mit seinem „Gesang vom Kindchen". Vielleicht war dieser Autor dafür prädestiniert, so etwas zu schreiben, da es kaum eine egoistischere Lebensführung als die von ihm gepflegte geben dürfte und da für ihn aus bekannten Gründen die Vaterschaft immer etwas Verwunderliches blieb. In meiner Ausgabe der Erzählungen von Thomas Mann findet sich der „Gesang vom Kindchen", obwohl es keine Erzählung ist, sondern Thomas Manns einziger publizierter lyrischer Versuch. Für mich einer meiner vielen Lieblingstexte von ihm, obwohl an diesem Text eigentlich alles falsch ist, aber so eigentümlich formuliert. Thomas Mann hatte schon vier Kinder, als kurz nach der Niederlage Deutschlands im 1.Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie (beides hat ihn sehr getroffen, schließlich hat er sich in den als „Betrachtungen eines Unpolitischen" publizierten Texten jahrelang für seine Vorstellung von „Kultur" stark gemacht, die für ihn nur deutsch sein konnte, und auf quälende Art ein publizistisches Fernduell mit seinem Bruder Heinrich geliefert, der ihm für französische „Zivilisation" stand) noch ein Mädchen dazukam (und gerade mal ein Jahr später auch noch ein Junge, der es denkbar schwer hatte im Leben, so wird er schon in „Unordnung und frühes Leid" mit dem Namen „Beißer" bedacht und wegen seiner ständigen Krankheiten und seines Jähzorns gerügt). Elisabeth dagegen hat uns alle 2001 in der Fernsehdoku „Die Manns – Ein Jahrhundertroman" als letzte Überlebende der Familie mit ihrer gelassenen, zurückhaltenden, klugen Art bezaubert. Eine wundervolle ältere Dame, noch dazu eine engagierte Ökologin, die sich für die Weltmeere einsetzte, die aber auch jeden Abend ein Glas Whisky trank und als einzige in dieser Familie niemandem zu grollen schien. Ihr hat ihr Vater 1919 also diese Hymne in Hexametern geschrieben. Es wäre zu schön, und es würde all unsere Vorstellungen über gesunde frühkindliche Entwicklung bestätigen, wenn sie wirklich glücklicher geworden wäre, weil ihr Vater ihr mehr Liebe geschenkt hat als seinen anderen Kindern, aber so einfach ist es vermutlich dann doch nicht.
Im „Vorsatz" denkt Thomas Mann zunächst darüber nach, warum er sein Leben lang Prosa geschrieben hat. Selbst in der Jugend, wenn der „ringende Geist zum Gesange unter Tränen sich hindrängte", kam nicht viel Lyrisches heraus, „ein versachlichend Mühen begann da, ein kältend Bemeistern, - Siehe, es ward dir das trunkene Lied zur sittlichen Fabel." Er habe aber eine Neigung zum Vers, er hat sich ja als Kind schon lieber „an den Kämpfen Kronions" den Sinn erhöht als an Indianergeschichten. „Und was kein Drang der Seele, kein höher Befahrnis vermochte,/ Das wirke Vatergefühl: es mach' mich zum metrischen Dichter." Den Hexameter wählt er, denn „Zwischen Gesang und verständigem Wort hält er wohlig die Mitte." Das stimmt, es passt zu ihm. Man könnte sich gut vorstellen, dass ein sehr fleißiger Dichter Spaß daran hätte, alle Romane von Thomas Mann nachträglich in Hexameter zu setzen. Das leicht gestelzte der Formulierungen kollidiert schön mit den „Lebensdingen", die Gegenstand dieser Verse sind, also die Kinderbadewanne, der wackelige Kopf, die Mittelohrentzündung („Fluß des Mittelohrs, also lautet' betrüblich sein [des Arztes] Wahrspruch.")
Bisher stand es um seine Vaterschaft nicht so gut, führt er aus. Er erfuhr sie eher wie einen Traum. „Aber auch bänglich/ Kam es nicht selten ihn an und er wandte im Inneren hinweg sich,/ Sorgend bedacht, seine Freiheit und Einsamkeit vor dem Leben." Damals ging das für einen Vater bei vier Kindern offenbar noch. „All die Wirklichkeit", die ihn jetzt schon umringte, in Gestalt seiner Familie, er war „nicht willens, sich dran zu verlieren, neugierige Kühle/ Wahrend und oft gereizt, wenn es störend zudrang und lärmte." Wer kommt auch auf die Idee, in einem Haus mit vier Kindern sein Arbeitszimmer zu haben? Eine Zumutung für alle war dieses Arrangement. Der Vater war ständig nervös und schlecht gelaunt, er durfte durch Geräusche nicht gestört werden, die Arbeitszeit am Vormittag und der Mittagsschlaf waren heilig, und am Abend mussten auch noch alle zuhören, wenn er sein am Tag Geschriebenes vorlas. Nun hat „der Baum seines Menschtums" sich aber wieder verzweigt, im fünften Lebensjahrzehnt, „Silbricht glänzt uns die Schläfe". Wie kommt es, dass er nun bereit ist, sich seinem Kind emotional zuzuwenden? Und zwar schon als Baby? Der Jüngling, führt er aus, sei grüblerisch und misstraue den Sinnen, die Natur lehne er ab, sie rührt ihn nicht. Anders der Erwachsene, den die Natur beseelt, durch alle Sinne. Vielleicht liege darin eine Mahnung der Natur, „Daß wir ihr gehören und in sie kehren in Bälde?" Es ist ein Fall von Liebe auf den ersten Blick, als er, nachdem er den Wehen gelauscht hat, „die nichtige Last auf ängstlichen Armen" hält. Morgens schreitet er nun als Erstes ins Gemach der Prinzessin: „Naß bespritzt ist des Zimmers Bodenbelag in der Runde,/ Denn du regst dich lustig im Bade, ziehest und streckest/ keck die Beinchen, stoßweis', und schlägst mit den kleinen Armen/ In die behagliche Flut mit unternehmender Miene/ Dich zu zeigen stolz, in der nassen Wange ein Grübchen,-/ Über den Beckenrand springen die Tropfen und nässen den Rock mir." Wobei er sie natürlich nicht selbst badet, das macht eine Pflegerin, „Muhme" genannt. So lässt es sich aushalten, da beobachtet man schon einmal interessiert, was mit dem Baby angestellt wird, man muss ja nicht Hand anlegen und kann jederzeit wieder gehen. Die Kleine wird gewickelt und dabei „am elektrischen Ofen gewärmt". Interessant, dass es das damals schon gab! Danach ist sie „walzenförmig zu schauen/ Unterwärts bis an die Brust". Sie bekommt warme Milch, versetzt mit Haferschleim und Zucker (unfassbar!) „Und da kaum getan, womit wir anderen Großen/ Uns nur erst rüstig machen zum Tage – entschlummerst du wieder." Das geht mir allerdings genauso. Nach dem Frühstück möchte ich eigentlich immer gleich wieder entschlummern. Bei gutem Wetter wird der Wagen mit den Gummireifen in den Garten geschoben, und der Autor hört sein Kind manchmal weinen „verdrießlich,/ Da du Reiz und Schmerz verspürst des drängenden Zahnbeins,/ Das im Begriffe, das zarte Kieferfleisch zu durchbrechen." Wie kommt es, dass die Zahnlosigkeit, das Ungeschick, das unverständliche Brabbeln, das unsicher wackelnde Häuptchen, der suchende Blick, bei einem Kind rührt, während das alles, wenn es beim Greis wiederkehrt, uns unangenehm ist? Weil das „späte Unvermögen, welches wir gleichfalls ehren und schonen,/ Hauch der Krypte umweht, so daß es kühl uns durchschauert.-"
Dass die Kleine so aufgeweckt ist, schiebt Thomas Mann übrigens auf ihr Geschlecht. Er meint zu wissen, dass Mädchen neugieriger und beflissener sind, von vordrängendem Geist: „Ungleich dem Knaben, der alles verschiebt in schläfriger Saumsal." Eigentlich ist die Pflege und Betreuung natürlich Frauensache, aber Thomas Mann lässt es sich von Zeit zu Zeit gerne gefallen, wenn er eingebunden wird: „Praktisch lassen Vaterschwäche sich fruchten die Frauen:/ Sind sie beschäftiget sonst im Hausstand oder beim Einkauf,/ Geben sie gern dich in meine Hut. Sie wissen, ich schlag' es/ Ihnen nicht ab." Er betrachtet dann seine Tochter in ihrem „Moseskörbchen" und denkt über ihre erbliche Beschaffenheit nach, die, unvermeidlich bei Thomas Mann, natürlich überhöht wird, sie ist ja eine Mischung, wie bei ihm das Interessante immer gemischt sein muss („Tonio Kröger"). Seine jüdische Frau steht für ihn für den „Orient", und er selbst sieht sich durch seine Mutter gleichermaßen von den so verschiedenen, aber irgendwie auch verwandten Handelsstädten Lübeck und Venedig angezogen.
Das Gedicht endet mit einer langen Beschreibung der Taufe, für die Thomas Mann einen Pfarrer ausgewählt hat: „Denn wer weiß, was einem die Lutherkirche ins Haus schickt,/ Wenn man es ihr überläßt; wohl gar einen öligen Tölpel,/ Welcher mir alles ins Komische zöge." Was eigentlich seltsam ist, weil er ja selbst immer alles ins Komische zieht. Elisabeth wird über das Familientaufbecken gehalten, das damit schon in der vierten Generation benutzt wird. Anschließend gibt es eine Vesper: „Klug bestellt von der sorgenden Wirtin zur Ehre des Hauses,/ Wie die Blockade es zuließ der kalt gebietenden Angeln." Denn es geht hier ja darum, wie ein Neugeborenes die Erwachsenen in, historisch gesehen, orkanischen Zeiten erweicht und tröstet. Zusammen mit der Idylle „Herr und Hund", in der Thomas Mann sich seinen Hunden widmet (einer der wenigen Texte von ihm, die ich mangels Interesse nicht zu lesen schaffe), ist „Gesang vom Kindchen" ein Versuch, sich in finsterer Zeit auf das für die Seele Gesunde zu besinnen. Weist also, wie manche Idylle, indirekt auf eine den Autor bedrängende Wirklichkeit hin. Das hätte ich antworten müssen, als ich neulich gefragt wurde, ob ich mit „Zuckersand" vorgehabt hätte, eine Idylle zu schreiben.
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