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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Eine der prägenden TV-Erinnerungen aus meiner Kindheit ist die distinguierte Welt von "Das Haus am Eaton Place" ("Upstairs Downstairs"), die mich damals schon fasziniert hat, vielleicht weil ich als Ostberliner Plattenbaukind neidisch auf die behagliche Lebensweise der englischen Oberschicht um 1900 war. Jede Folge war ein soziologisches oder gruppendynamisches oder einfach historisches Lehrstück. Auffällig war, daß die Familie seiner Lordschaft Sir Richard Bellamy und das Personal im Souterrain, dem der Butler Hudson vorstand, in gespiegelten Welten lebten, die wechselseitig voneinander abhingen. Seit ich einen eigenen Haushalt führe, weiß ich, wie ermüdend das tägliche Ringen um Ordnung und Sauberkeit ist und würde mir diskretes, treues und an meinem Geschick im Stillen Anteil nehmendes Personal wünschen, wie es die Bellamys haben.
Im Grunde sind mir die Folgen am liebsten, in denen es nicht um Ereignisse aus der Weltgeschichte und ihre Auswirkungen auf den Alltag geht, sondern in denen gar nicht viel passiert, man aber mitverfolgt, wie so ein Haushalt organisiert war, von den Besuchen der Scheuerfrau über die Einkaufslisten der Köchin bis zum Ankleiden der Dame, das die Zofe übernimmt, die anschließend stolz auf ihre herausgeputzte und frisierte Herrin ist, deren Aussehen gewissermaßen ihr Werk ist. (Wobei das Expertenwissen durch die Zofe tradiert wird, bei Einladungen aufs Land solle man keine Diamanten anlegen, belehrt sie z.B. einmal ihre Dame.) Interessante, längst ausgestorbene Küchengeräte, gebügelte Schnürsenkel und Zeitungen, auf einem Silbertablett gereichte Post, der gebürstete Zylinder, der einem beim Losgehen gereicht wird, ohne daß man darum bitten müßte, alles ist seit Ewigkeiten eingespielt wie eine Ballettchoreographie und bleibt möglichst unverändert. Genau wie Prousts Recherche ist die Serie dabei auch eine Chronik technischer Neuerungen, besonders eingeprägt hat sich mir die Begründung, mit der in einer Folge ein Dichter es ablehnt, ein Automobil zu besteigen: "It is unseemly for a poet to proceed anywhere by a series of explosions."
Die Dienstboten arbeiten von früh morgens bis spät am Abend, wenn sie sich einen heißen Kakao gönnen dürfen und Hudson aus der Zeitung oder der Bibel vorliest, den beiden Quellen seines Weltbilds. Sie haben selten einen freien Tag und bekommen kaum Gehalt, trotzdem dürfen sie sich glücklich über diese Anstellung schätzen, die weniger Glücklichen klopfen ja manchmal an die Tür des Dienstboteneingangs, Bettler oder entlassene Dienstboten, die auf ein paar Essensreste hoffen. Die Serie hat fast schon unerträglichen Realismus zu bieten, z.B. bei der Darstellung der Armut im Londoner Osten.
Interessant ist, daß alle, Oben und Unten, die Veränderung der traditionellen Gesellschaftsordnung fürchten, daran darf kein Gedanke verschwendet werden, höchste Tugend ist es, seinen Platz zu kennen, auf den einen Gott gestellt hat, und keinen anderen anzustreben. Als Lord Bellamy für seine Arbeit an einer politischen Biographie über seinen Schwiegervater eine Schreibkraft einstellt, an die sich sein Sohn, der junge Captain James, heranmacht, ist Butler Hudson höchst irritiert, daß sie mit ihm im Salon speist und auch noch der beste Wein des Vaters geordert wird, das will er glatt verweigern. Wenn die Verhältnisse so in Unordnung geraten, dann wird das auch irgendwann die Bediensteten betreffen.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit dem die dritte Staffel endet, bringt dann natürlich größere Verwerfungen mit sich. Diener Edward meldet sich freiwillig und kehrt traumatisiert zurück. Das einfältige Küchenmädchen sucht sich eine Stelle in einer Munitionsfabrik, bei der sie mehr verdient, als sie am Eaton Place je zu erwarten gehabt hätte. Und in der ersten Folge der vierten Staffel ("A Patriotic Offering") wirbt ein blasiertes Damenkomitee dafür, sich für belgische Familien zu engagieren, die vor den Deutschen geflohen sind. Lord Bellamy erklärt sich bereit, eine Familie aufzunehmen. Man ist dann allerdings entsetzt, was für ungehobelte Bauern eintreffen, seine Lordschaft steckt sie sofort nach unten zum Personal. Die Bediensteten haben allerdings schnell die Nase voll von diesen undankbaren Grobianen. Sie verstehen kein Wort Englisch, lassen sich nicht baden, rümpfen die Nase über das Essen, haben Läuse und rauchen bei Tisch Pfeife. Das Personal, das seinen ohnehin sehr engen Lebensraum mit den Neuankömmlingen teilen muß, rebelliert.
Zum Glück kann die junge Miss Georgina von "Upstairs" gut genug Französisch, um zu dolmetschen, kulturelle Mißverständnisse, die zu Aggressionen geführt hatten, klären sich auf, Details über das Schicksal der vertriebenen Familie rühren alle zu Tränen, man verlegt sie allerdings auf einen Bauernhof, was ihrer Lebensweise besser entspreche. Weniger gut ergeht es einem deutschstämmigen, längst eingebürgerten Bäcker aus dem Viertel, der bis dahin bei seiner Kundschaft und bei den Bellamys sehr beliebt gewesen war. Von der Zeitungspropaganda aufgehetzte Nachbarn überfallen den Laden, verprügeln und vertreiben den Bäcker und seine Familie. Selbst Hudson, der erzkonservative Butler, der als Schotte und glühender britischer Patriot in jedem in England lebenden Deutschen einen potentiellen Spion und Brunnenvergifter sieht, kommt ins Nachdenken.
Übrigens erinnere ich mich, wie auffällig es mir als Kind war, daß in der Serie ständig gefragt wurde, ob jemand "einen Sherry" trinken wollte. Bei jeder Unterredung im Salon und immer, wenn man nach Hause kam, wurde aus einer Glaskaraffe Sherry eingegossen, ungefähr so oft, wie Tony Soprano Salami aus dem Kühlschrank nascht. Beim Sichten der Serie in der vollständigen DVD-Edition (das ZDF hatte damals viele Folgen an die Sendezeiten angepaßt und leicht gekürzt bzw. einige ganz weggelassen) warte ich immer noch darauf, daß auch nur einmal "Sherry" gesagt wird. Man trinkt stattdessen Cognac. Ich weiß nicht, wie es zu diesem Gedächtnisfehlleistung gekommen ist.
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