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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Als Jugendlicher und junger Erwachsener habe ich Reiseführer verachtet, man durfte sich doch nicht von anderen vorschreiben lassen, was man sich ansehen sollte, dann konnte man ja gleich zuhause bleiben. Es ging schließlich darum, sich einem existenziellen Abenteuer auszuliefern, da war schon eine Landkarte ein Stilbruch. Ein Reiseführer hätte sich höchstens als Negativfolie verwenden lassen, um zu erfahren, welche Orte man meiden musste, wenn man Touristen aus dem Weg gehen wollte. In Wirklichkeit hatte ich schon damals ein starkes Orientierungsbedürfnis und habe heimlich Landkarten studiert und es bedauert, so wenig über das zu wissen, was ich unterwegs sah. Allerdings sind Reiseführer tatsächlich eine sehr langweilige Lektüre, sie strotzen meistens vor Plattitüden („Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein") und sind schnell veraltet. Man braucht sie tatsächlich nicht, für die Sprache gibt es Wörterbücher, für nützliche Informationen Google, Hintergrundwissen findet man auf Wikipedia. Ich bevorzuge deshalb eine Sonderform, nämlich Architekturführer, denn mit Gebäuden hat man auf einer Städtereise ja viel zu tun. Nur an den wenigsten Häusern steht das Jahr, in dem sie erbaut wurden, und ganz selten der Architekt (in Bukarest habe ich das öfter gesehen.) Um eine Stadt zu verstehen, muss ich aber wissen, von wann die Gebäude stammen, wer sie gebaut hat und was er in der Stadt noch gebaut hat. Besonders bei neuerer Architektur, die ja oft kaum zu unterscheiden ist, macht es viel aus, wenn einem von Fachleuten Fassadenmaterialien, Grundriss, Eingangssituation und (für Kasachstan sehr wichtig) der symbolische Gehalt erklärt werden, vielleicht erfährt man sogar, in welcher Stadt auf einem ganz anderen Kontinent das Studio ein fast identisches Gebäude errichtet hat. Architektur ist ein Königsweg, wenn man eine Stadt oder ein Land verstehen will, man braucht dann gar keine Museen mehr zu besuchen, höchstens, wenn einen das Gebäude interessiert.
Für Städte wie Paris, London oder New York gibt es viele Architekturführer, aber was ist mit Astana, Bischkek, Taschkent, Duschanbe, Slavutych, Pjöngjang, Osnabrück? Der Architekturverlag DOM publishers widmet sich nicht nur den üblichen Großstädten, sondern ebenso für uns als Mitteleuropäer exotischeren Städten. Die wichtigsten Gebäude werden abgebildet und kurz beschrieben und dabei nach Bauepochen sortiert. Man bekommt auf diese Weise Schnitte durch die Städte geliefert und kann nachvollziehen, wie sie gewachsen sind. Besonders in Osteuropa, wo Baugeschichte von politischer Geschichte nicht zu trennen ist, und es immer wieder abrupte, staatlich angeordnete Stiländerungen gab, ist das hochinteressant.
Kartenmaterial und Panoramabilder erleichtern die Orientierung und längere Essays liefern ergänzendes Material. Die Bücher lassen sich auch lesen, wenn man die Städte nie gesehen hat und nicht vorhat, dorthin zu reisen, bzw. wenn das so kompliziert wäre wie bei Pjöngjang. Der Architekturführer für diese Stadt dürfte eine Pionierleistung sein und hat sich alleine in seiner deutschen Version 3000 Mal verkauft. Welcher andere Verlag hätte das Risiko gewagt, so ein Buch zu machen? Oder über Slavutych? Die Stadt wurde als Modellstadt errichtet, um das wegen Tschenobyl verlassene Prypjat, das heute eine Geisterstadt ist, zu ersetzen. Der Bau war eine sowjetische Gemeinschaftsleistung, die Viertel sind von einzelnen Sowjetrepubliken projektiert worden und haben einen entsprechenden Stil, da es in dieser Zeit ja schon üblich war, in die Architektur regionale Elemente einfließen zu lassen. Dadurch ist die Stadt zu einem Museum sowjetischer Architektur geworden.
Im Kasachstan-Führer sieht man, wie der neue Teil der Hauptstadt Astana mit dem Regierungsviertel und zahlreichen ikonischen Solitären in wenigen Jahren aus der Steppe gewachsen ist. Man hätte sich nur 10 Jahre in einem Hotel einmieten müssen und hätte vom Zimmer aus zusehen können, wie buchstäblich aus dem Schlamm eine (besonders nachts) glitzernde, teilweise auch golden verspiegelte, postmoderne, symbolisch stark aufgeladene Retortenstadt entstanden ist, die wenig urban wirkt aber als Attraktion für die Menschen funktioniert (in diesem Jahr findet hier die EXPO statt). Das Buch enthält ein Gespräch mit dem japanischen Metabolisten Kisho Kurokawa, von dem der Masterplan Astanas stammt, ein Gespräch mit dem Chefredakteur des einzigen kasachischen Architekturmagazins, Texte über die Ökokatastrophe am Aralsee, über den Weltraumbahnhof Baikonur, über die Baugeschichte Kasachstans. Besonders interessant ist für mich die zentralasiatische Version der Plattenbauten, die man hier findet, mit folkloristischen Ornamenten, ornamentierten Sonnenschutzelementen aus Beton und riesigen Wandmosaiken. Allzu viele Städte hat Kasachstan nicht, das vorwiegend aus Steppe besteht, in den meisten dürfte man kaum Touristen begegnen, Semipalatinsk, Kurtschatow, das für Atomwaffentests errichtet wurde und lange eine geschlossene Stadt war, die Erdölstadt Aqtau am kaspischen Meer, der Süden mit erhaltenen Gebäuden islamischer Architektur aus früheren Epochen, das alles liegt in mehrstündiger Flugdistanz. Natürlich wird auch die alte, sehr grüne Hauptstadt Almaty behandelt, wo (wie im ganzen Land) viele elegante Gebäude der Ostmoderne inzwischen leider mit blauen Glasscheiben und Keramogranitfassaden renoviert worden sind. Man braucht natürlich keinen Reiseführer für ein Land, in dem man auf Schritt und Tritt überrascht wird und Entdeckungen macht (Achtung, Reiseführerplattitüde ...), aber aus dem Architekturführer Kasachstan erfährt man vieles, was selbst die Einwohner nicht wissen dürften, denn mit dem historischen Gedächtnis hat man es hier nicht so, man interessiert sich mehr für die Zukunft. Wenn man nicht die Zeit hat, hierhin zu fahren, ist die Lektüre ein Trost. Ich freue mich deshalb schon auf den Architekturführer für die Arktis, der bei DOM publishers in Planung ist.
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Schöner Artikel und nicht die Reisen vergessen!!!
Bei allen internationalen Architekten, Stadtplanern und Investoren gibt es die nationalen Besonderheiten, die Wesentliches aussagen. Auch in der Neustadt von Astana:
Als ich 2005 dort war, mit ehemaligen Gulag-Häftlingen sprach, war das noch illegal. Obwohl die Poduktionsfirma, für die ich arbeitete, einen Auftrag der ARD hatte, schmuggelte das Team das gedrehte Material raus als ob wir Spione seien. 2008 war das anders: Über uns wurde geschrieben. Es war ein Museum der russischen Okkupation entstanden, sowie Gulag-Museen. Das war anders falsch.
Naserbajew, der Kasachstan seit über einem Vierteljahrhundert regiert und den das Volk so janz, janz dolle liebt, dass er nicht in Rente gehen kann, hatte eine Wende vollzogen. So stand nun neben extrem schnell verfallenden Neubauten ein Denkmal für die Gulag-Opfer.
Es gilt Milan Kunderas berühmtes Diktum: „der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Erinnerns gegen das Vergessen“. Und so können Architekturführer subversiv sein und das Reisen bereichern.