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Quelle: "Technische Formen" von Michael Voll, an einem Wohnhaus in Frankfurt (Oder), Foto: Martin Maleschka (in: Baubezogene Kunst DDR) (für piqd 90° gedreht)
Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Mein Interesse für ostmoderne Architektur und, was man früher "Kunst am Bau" nannte, hat, vielleicht, weil ich in Ost-Berlin aufgewachsen bin, erst viele Jahre nach der Wende eingesetzt. 1999 und 2000 habe ich jeweils einen vierwöchigen Sprachkurs in Moskau gemacht, wir waren im Viertel Belyayevo im Südwesten von Moskau untergebracht, nie wäre ich darauf gekommen, es mir anzusehen, man ging nur auf dem kürzesten Weg zur U-Bahn, um ins Stadtzentrum zu fahren. Unmerklich schlich sich aber schon damals eine heimliche Faszination ein, wenn man nach einem langen Tag zwischen Sehenswürdigkeiten wieder aus dem U-Bahn-Schacht kam, die majestätischen Plattenbauriegel im Licht der Abendsonne dastanden, und dann ging es mit einem Bier vom Kiosk in der Hand durch die vergrößerte Version meines Kindheitsviertels zurück zum Wohnheim, wo ich aus dem Fenster meines Dreibett-Zimmers auf Sukzessionsflächen mit Trampelpfaden, Baustellentümpeln und ziemlich schludrig ausgeführten Hochhäusern sah.
Als mich damals eine Gruppe von jungen Architekten und Fotografen bat, für ein Plattenbauquartett vier kurze Texte zu schreiben, fand ich das noch kurios, ich kam mir vor wie ein Eingeborener, dessen Lebensweise für Ethnologen von Interesse war. Sie wohnten damals schon im Plattenbau im Ost-Berliner Zentrum, weil sie wie Pionierpflanzen die verborgenen Reize dieser schlecht beleumundeten Bauform für sich entdeckt hatten. Ich dagegen wollte natürlich unbedingt im Altbau bleiben, ich kam schließlich aus dem Plattenbau. Zudem hatte ich ideologische Vorbehalte gegenüber der Ost-Ästhetik. Zu lange hatte ich in dieser Welt leben müssen, um noch genau hinzusehen. Ein großer Fehler! Ein Künstler wie Jan Brokof, den ich später kennenlernte, und der einer jüngeren Generation angehört, hat nicht nur Holzschnitte von Plattenbaufassaden angefertigt, sondern ein lebensgroßes Papiermodell seines Kinderzimmers. Ich hätte es mir damals noch nicht erlaubt, mich so obsessiv mit meiner Herkunft zu beschäftigen, dazu erschien sie mir zu unspektakulär. Ich mußte erst mehrere Jahre nach Bulgarien fahren, mehrmals nach Rußland und schließlich ein paar Monate nach Sarajevo, bis sich mir die Augen öffneten. Spätestens dort und beim Besuch von Novi-Beograd wurde mir bewußt, wie unterschiedlich die aus Typen errichteten Plattenbauten in den Ländern des ehemaligen Ostblocks aussahen, je nach Region und Zeitpunkt ihrer Entstehung, und ich kannte ja nur einen Bruchteil davon, hier war ein Schatz zu bergen. Allerdings mußte ich schnell feststellen, daß ich mich bei uns für dieses Interesse an Plattenbauten ständig entschuldigen mußte, wenn ich nicht als Ostalgiker gelten wollte. Inzwischen ist diese serielle Formenwelt aber längst von Fotografen entdeckt worden.
Während die Plattenbauten in Ostdeutschland überhastet und meist in scheußlichster Weise saniert wurden (insbesondere wurden immer wieder falsche Dachziegel angeklebt oder aufgemalt, um das Flachdach zu kaschieren), konnte ich in Osteuropa noch durch "naturbelassene" Viertel laufen, die alten Spielplatzgeräte fotografieren, Gebrauchsspuren studieren. Auf Städtereisen zog es mich zunehmend in die Peripherie statt in die Altstadt. Ich war neugierig auf Plattenbauten in Regionen, wo man sie nicht erwartete, z. B. in Zentralasien, wo historische Architekturelemente, wie die schattenspendende Pandschara, aus Beton nachgebildet wurden und äußerst reizvolle Oberflächen entstanden waren. Dazu kamen überall Ornamente, Giebelmosaike, Fensterformen, Eingangsportale etc. Ich dachte damals, es müßte ein Archiv dieses Formenreichtums geben, denn vieles davon verschwand ja nach und nach, wurde wegsaniert, von den Bewohnern umgestaltet oder einfach abgerissen, vor allem natürlich in Ostdeutschland. Deshalb trifft die "Grabungsstätte" in Halle Silberhöhe so ins Schwarze, die Groß-Skulptur einer Künstlerin, die auf dem Grundriß eines rückgebauten Plattenbaus aus Beton eine Art antike Stätte des DDR-Alltags geschaffen hat.
Für mein Buch "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland" bin ich dann durch Ostdeutschland gereist und habe nach Resten von Architektur, Design, Kunst und Großkunst, Warenwelt, Industrie, Fahrzeugen, Spielzeug, Stadtmöbeln gesucht, aber auch Entdeckungen gemacht, wie die vernakuläre Sicherheitsarchitektur an Balkons in Leipzig-Grünau. Ich suchte aber insbesondere nach Dingen, die von ihrer Gestaltung her im internationalen Kontext gestanden hatten, aus der Tradition der Moderne kamen und der SED gar nicht geschmeckt haben, heute aber oft mit SED-Geschmack gleichgesetzt werden. Einheitlich war der sicherlich nicht, aber daß so etwas elegantes, wie die Berliner Kongreßhalle der Parteiführung gepaßt hat, die ja eher auf vertikale Machtdominanten nach sowjetischem Vorbild stand, darf bezweifelt werden. Zumal die Funktionäre doch eher kleinbürgerlich dachten und empfanden.
Um meine Reisen vorzubereiten, habe ich in Literatur und Blogs nach Material gesucht und stieß dabei zwangsläufig auf Martin Maleschkas gigantisches Bildarchiv von baubezogener Kunst. Maleschka ist studierter Architekt, in Eisenhüttenstadt geboren, Jahrgang 1982. Mehrere Häuser, in denen seine Familie vor und nach der Wende in Eisenhüttenstadt gewohnt hat, sind "rückgebaut", also abgerissen worden (ängstlich warte auch ich auf den Tag, da meine alte Schule abgerissen wird, die baugleiche Nachbarschule hat es schon erwischt). Unter anderem mit dieser biographischen Prägung hat es zu tun, daß Maleschka schon als Student ein manischer Sammler von baubezogener Kunst, Architektur und Architekturdetails in Ostdeutschland geworden ist. Mit Bedenken wegen der vielen Werken zugrunde liegenden Ideologie hält er sich nicht auf, was er mit seinem Alter begründet. Er recherchiert in Literatur, Architekturzeitschriften, Bildbänden und macht dann, oft mit dem Fahrrad, Erkundungstouren durch Orte wie Köthen oder Sangerhausen, um nach baubezogener Kunst und Architekturdetails zu suchen, nicht selten ist er der Letzte, der sie vor ihrer Zerstörung noch einmal dokumentieren kann. Auf diese Weise sind inzwischen über 100.000 Bilder zusammengekommen. Der Umfang des Materials erklärt sich auch daraus, daß damals im Rahmen der "komplexen Umweltgestaltung" 1–2 % der Bausumme jedes Gebäudes für "Bekunstung" eingeplant war. Man kann sich ausmalen, wie groß dieses Archiv sein würde, wenn es ganz Osteuropa oder vielleicht sogar die anderen Länder des sozialistischen Lagers wie Kuba, Angola oder Vietnam einschließen würde. Aber schon, um den Bestand in Ostdeutschland zu erfassen, bräuchte Maleschka, wie er sagt, dringend einen Mitarbeiter.
Ein kleiner Ausschnitt seiner Arbeit liegt nun endlich gedruckt vor, im Band "Baubezogene Kunst DDR" aus dem verdienstvollen Berliner "DOM publishers"-Verlag, der hervorragende Architekturführer oft touristisch wenig erschlossener Orte wie Pjöngyang, Astana oder neuerdings auch für den Mond (!) herausgibt (ein Architekturführer für Grönland ist geplant.) 120 Kunstwerke, Groß-Mosaike, Wandbilder, Skulpturen, Betonreliefs und, meine Favoriten, Strukturwände aus Beton, hat Maleschka in seinen Führer aufgenommen, und kurz und informativ beschrieben. Dabei greift er auf umfangreiches Wissen über die entsprechenden Künstler zurück, das er recherchiert oder im persönlichen Gespräch zusammengetragen hat (das macht die Informationen so lebendig. Man erfährt zum Beispiel, daß ein Maler bei einer überdimensionalen Arbeiterin am Schaltpult seine Frau verewigt hat.) Die Vielfalt an Techniken, darunter teilweise selten angewandte, ist beeindruckend, es findet sich u. a. Glasklebetechnik, Sgraffito, Ziergitter aus Stahl, Klinkerrelief (beim Vogelzug in der Langen Straße in Rostock), Bleiintarsie auf Porphyr (Friedensfahrt von Johannes Belz in Chemnitz. Sehr bemerkenswert auch seine Brunnenplastik "Jugend"), Natursteinintarsien, Kaseinmalerei, Glassteinmosaike, Industrie-Email auf Stahlblechplatten, Glasschlifffenster, Betonglasmosaik. Martin Maleschka hat, was eine große Rechercheleistung darstellt, ermittelt, von dem die Werke stammen (wie schön, die Namen der Schöpfer einer Betondurchbruchwand zu erfahren, die in Halle-Neustadt den Fußgängerbereich vor dem Gastronom-Versorgungszentrum strukturiert!) und den Werdegang der Künstler recherchiert, es gibt im Anhang Kurz-Biographien, die deutlich machen, daß es sich um weit mehr als ein paar Propaganda-Künstler gehandelt hat, sondern um eine ganze Generation von Künstlern, deren Namen in den meisten Fällen nur Fachleuten bekannt sein dürften, viele sind bereits gestorben oder hochbetagt. (Wie es sich für sie angefühlt haben muß, wenn ihre Werke, viel zu oft, stillschweigend vernichtet worden sind, kann man sich denken. Besonders, wenn es sich um Werke handelte, um die bei der Entstehung gekämpft werden mußte, wovon der späte DEFA-Film "Die Architekten" auf bedrückende Weise erzählt. Eine symbolische Vernichtung, die die physische fast noch übertrifft, ist die traurige Tatsache, daß die denkmalgeschützte Keramikmalerei "Dresden, Stadt der Wissenschaft und Kultur, grüßt seine Gäste" von 1969, die ursprünglich vom Bahnhof aus zu sehen war und den Eingang zur Prager Straße markierte, sich seit 2003 in einer Art neugeschaffener Hinterhofsituation befindet.)
Natürlich gab es viel Propagandakunst, die Bilder sollten den Betrachter ja auf den richtigen Weg bringen (was kaum funktioniert haben dürfte.) Viele Titel lesen sich entsprechend sperrig und unfreiwillig komisch, wobei aus diesem sachlichen Ernst auch herauszuhören ist, welche Bedeutung man der Kunst damals beimaß:
"Erholung an der Friedensgrenze"
"Von der Verantwortung des Menschen"
"Mann, Frau und Sputnik"
"Die Befreiung der Wissenschaft durch die sozialistische Revolution"
"Die von Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR"
"Chemiebrunnen"
"Der internationale Charakter der Offensive des Marxismus-Leninismus"
"Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift"
usw.
Viele Künstler haben sich auf Tierdarstellungen zurückgezogen oder den Weg in die Abstraktion gesucht, wobei das bei Kunst und Design in den 50er Jahren noch zu ideologischen Angriffen geführt hat, Stichwort Formalismuskampagne. Die Architektur könnte eine Nische für begabte, abstrakte Künstler gewesen sein, weswegen die geometrisch-abstrakten Architekturelemente auch so eine hohe Qualität hatten. Wie im Fall der markanten räumlich-ornamentalen Falt-Fassaden aus eloxierten Aluminiumelementen der Konsument-Warenhäuser (die von Fritz Kühn in Suhl wurde 2006 zerstört, die vom heutigen Kaufhof am Alex wäre laut Presse damals angeblich zu aufwendig zu reinigen gewesen, und angesichts des, gegenüber dem Original auch noch vergrößerten Sandstein-Sarkophags, der dort heute steht, vermißt man sie doch schmerzlich.) Insbesondere die Schöpfer der markanten Betonformsteine wie Hubert Schiefelbein (in Berlin vielleicht am bekanntesten von ihm die Fassade des Kino International) haben eine Kunst ohne Autor geschaffen, die das Bild der Städte in Ostdeutschland geprägt hat und im Zuge der Neubewertung der brutalistischen Baukultur, die in den letzten Jahren international ja schwer in Mode gekommen ist (während die Gebäude nach wie vor abgerissen werden), mehr Aufmerksamkeit bekommen könnte. Ich habe das bemerkt, wenn ich solche Betonformsteine in Brutalismus-Facebookgruppen gepostet habe, dann hagelte es Likes aus aller Welt.
An ornamentalen Werken, man denke nur an Schiefelbeins spektakuläre, aus einem Beton-Element bestehende Fassade der Stadthalle in Chemnitz, befindet sich kein Name. Oft sucht man den aber auch bei Skulpturen im öffentlichen Raum vergebens, die Person des Künstlers stand damals nicht im Vordergrund. Vieles verschwindet oder befindet sich seit vielen Jahren unter einer Plastik-Verkleidung, wie der Wandfries "Die Presse als Organisator" am ehemaligen Pressecafé im Haus des Berliner Verlages, man könnte das sarkastisch als temporäre Schutzmaßnahme gegen Umwelteinflüsse deuten. Ich habe aber auch schon beim Spazierengehen den Verlust einer schönen Keramikbildwand von der Fassade einer Schulturnhalle bemerken müssen (die Fassade ist wärmegedämmt worden). In dem Fall habe ich die Schulleitung angeschrieben und nach den Hintergründen gefragt, ohne eine Antwort zu bekommen. Für mich fehlt an der Stelle jetzt etwas. Es ist nicht nur das Verschwinden, das mich betrübt, ich bin vielmehr beunruhigt über den Akt der Verdrängung, der damit verbunden ist.
Es gibt bei DOM publisher bereits einen weiteren Architekturführer Baubezogene Kunst für Georgien. Dort scheint die Ikonographie des sozialistischen Realismus mit mittelalterlicher georgischer Malerei kombiniert worden zu sein, meist in Mosaiktechnik. Eine bunte, dynamische, überraschende Bildwelt, die man auch in der Ukraine noch sehen kann.
Es steht zu hoffen, daß der Verlag sukzessive ein Archiv dieser Bildwelten initiieren und publizieren wird. Die Bedeutung so eines Projekts kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und Martin Maleschka kann man nur wünschen, daß er irgendwann einen Mitarbeiter einstellen kann, im Moment wird er für seine Pionierarbeit ja nicht einmal bezahlt.
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