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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Das Messegelände der Leipziger Buchmesse befindet sich auf halber Strecke zwischen Leipzig und Berlin, man könnte also eigentlich auch Berliner Buchmesse sagen. Das diesjährige Messe-Gastland ist Rumänien, es gibt zahlreiche Veranstaltungen mit rumänischen Autoren, die man in Deutschland leider kaum kennt. Weil ich ein Buch über Rumänien geschrieben habe ("Gebrauchsanweisung für Rumänien"), war ich zu einer Podiumsdiskussion eingeladen worden und mußte auf der Hinfahrt im hellgrünen Retro-Ersatz-IC schnell noch einmal mein eigenes Buch lesen, um mich mit meinem Kenntnisstand vertraut zu machen. Leider konnte ich mich nicht konzentrieren, weil meine Sitznachbarin so interessante Sachen sagte, offenbar spielte ihre Tochter mit dem Gedanken, die Schule zu schmeißen, bzw. nur noch hinzugehen, um im Internet zu surfen und ihre Freundinnen zu treffen ("Ick sare, aba nich mit mir! Unsere Familie, unsere Regeln! Dein Job is die Schule!") Die meisten anderen Fahrgäste mußten auch zur Messe, wahrscheinlich konnten sie sich kein Zimmer in Leipzig leisten und pendelten, was ja wesentlich günstiger ist. In Leipzig überraschte uns ein unangenehmer Schneeregen, so daß auf dem Weg zur Messehalle meine Wimperntusche verlief. Ich gab meine Jacke an der Garderobe ab und machte mich auf der Toilette frisch. Wenn man bei der Messe die langen Schlangen an den Damentoiletten sieht, freut man sich immer, ein Herr zu sein. Schön ist, daß man sich nach dem Händewaschen Desinfektionsmittel aus dem Spender in die Hände spritzen kann, das noch dazu so überzeugend nach Chemie riecht. Vor der Diskussion hatte ich einen Termin mit einem Fernsehteam, das einen Beitrag über Rumänien drehte, ich sollte irgendein schönes rumänisches Wort in die Kamera sprechen und entschied mich für holtzşuruburi ("Holzschrauben"). Anschließend suchte ich im Röhrensystem der Messehallen, in dem man eine Ahnung davon bekommt, wie sich das Leben auf dem Mars anfühlen wird, die Bühne, wo unsere Diskussion stattfinden sollte. Als ich sie fand, war gerade ein rumänischer Ex-Minister dabei, über seinen neuen Roman zu sprechen. Unsere Runde schien mir deutlich interessanter, allerdings habe ich vergessen, den Satz zu sagen, den ich mir zurechtgelegt hatte, deshalb reiche ich ihn hier nach, nämlich daß Dracula den Deutschen vor allem deshalb suspekt ist, weil er tagsüber schläft. Eine Autorin, deren Eltern mit ihr, als sie acht Jahre alt war, aus Siebenbürgen nach Deutschland emigriert sind, sagte, daß sie sich in Siebenbürgen als Kind freier gefühlt habe, weil sie sich z.B. mit ihren Freunden nicht verabreden mußte, da sowieso immer alle Kinder draußen gespielt hätten. Ich wurde nach meinem ersten Eindruck von Rumänien gefragt und erinnerte mich an Wandertouren in den 80er Jahren und die Anreise im Zug, auf der es immer einen längeren Zwischenhalt in Copşa Mică gab, einem wegen einer Rußfabrik vollkommen eingeschwärzten Ort. Die ökonomischen und politischen Verhältnisse im Land waren damals so finster, daß ich heute überrascht bin, was für großartige ostmoderne Architektur auch in Rumänien vor der Wende gebaut worden ist. Es gibt inzwischen Rumänen, die sich wieder dafür interessieren und die Fundstücke in Blogs wie diesem dokumentieren. Ich kenne außerdem kein Land, das so reich ist an Alltags-Absurditäten, für die es ebenfalls diverse Blogs gibt. Man kann dort z.B. eine Red-Bull-Büchse aus dem Supermarkt sehen, die als Beigabe zu einer Packung Hühnerflügel dient ("Red Bull verleiht Flügel".) Wenn man nach Rumänien reist und die Augen offenhält, wird man so etwas garantiert auch selbst entdecken. Nach einer Stunde war die Stunde schon rum und ich konnte noch etwas über die Messe schlendern und sah mir neue Kinderbücher an. Am Stand von Beltz, einem Verlag, der etliche DDR-Kinderbuchklassiker nachdruckt, saß neben mir ein Mann, der seinem Sohn aus "Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt" vorlas. Ich kann es immer kaum ertragen, wie schlecht andere Eltern vorlesen, man muß sich zurückhalten, sie zu unterbrechen und ihnen zu erklären, wie es besser geht. Bei Reprodukt, dem wichtigsten deutschen Comic-Verlag, der inzwischen auch phantastische Comics für Kinder und Kleinkinder herausgibt, ließ ich mir ein Rezensionsexemplar von "Der Popo von Hippopo" geben (großartiges Buch!) und sah mir die deutsche Übersetzung von Mathieu Sapins genialem Gérard-Depardieu-Comic an, die ich allerdings schon zuhause habe, denn ich will sie demnächst besprechen. Ich traf Mawil und klagte ihm mein Leid über die Spielzeug-ICEs, die im ICE an Kinder verschenkt werden, zu meinem Entsetzen sagte er, daß sie ihm sehr gut gefielen. Als Zeichner schätze man nämlich die gelungene Linienführung. Ich hätte lieber realistisch aussehende, ungegenderte Züge ohne Glubschaugen, Nachtmützen ("Nick Nachtzug") und Haarschleifen ("Ida IC"). Es war das erste Mal im Leben, daß ich mit Mawil nicht einer Meinung war! Zum Glück fanden wir dann am Stand vom Ventil-Verlag ein Buch über "Depeche-Mode-Fankultur in der DDR", das uns wieder zusammenführte. Mawil sagte, er habe damals als Schüler schon die Beatles gut gefunden und hätte es als unloyal empfunden, zusätzlich auch noch Depeche Mode gut zu finden, obwohl die alle anderen gut fanden. Außer den Erwachsenen und meiner großen Schwester kenne ich niemanden, der in der DDR nicht Depeche-Mode-Fan war. Mawil und ich stellten fest, daß wir, wenn wir vom Handy hochgucken inzwischen immer einen Moment brauchen, bis die Augen wieder scharf sehen. Ein Kollege lief mir über den Weg, er war in Begleitung einer Verlagsassistentin, die für ihn sein, allerdings auch ziemlich dickes, neues Buch trug. Für Autoren ist die Buchmesse immer eine schwere Prüfung, weil man so viel Gelegenheit bekommt, neidisch auf Kollegen zu sein: haben sie ein Foto am Stand ihres Verlags? Wie groß ist es? Wer war der Fotograf? Ist ihr neues Buch "Spitzentitel"? Gibt es auf dem Plakat ein Kritiker-Zitat ("... wichtigste Stimme seiner Generation ...") oder das eines Kollegen ("... ich wünschte, ich hätte dieses Buch selbst geschrieben ...") Sieht man sie auf dem "Blauen Sofa" sitzen und übernachten sie im selben Hotel wie ihr Verlagschef oder schlafen sie auf dem "Fleckigen Sofa" in einer WG und man erwischt sie dabei, wie sie die Werbung für ihre Lesung selbst an die Wände der Messehallen pinnen? Bei vielen Kollegen und Verlagsmitarbeitern, die man trifft, hat man zudem das Problem, daß man, nachdem man sich euphorisch begrüßt hat, grübelt, wie sie heißen. Ich habe einmal einen befreundeten Autor für einen befreundeten Lektor gehalten und war überrascht, von ihm zu erfahren, daß er jetzt Romane schrieb. Allerdings kam dazu, daß er mich ebenfalls für diesen Lektor hielt, dem wir wohl beide ähnlich sehen. Der Lektor hat nie erfahren, worüber er bei dieser Gelegenheit mit sich selbst gesprochen hat. Wie immer wollten auch alle Kollegen, die ich traf, wissen, zu welcher Party man abends gehen würde, und ich antwortete, daß ich zuhause zum Memory erwartet würde. Weil ich so viele Hände geschüttelt hatte, ging ich noch einmal aufs Klo, um mir die Hände zu desinfizieren. Dann mußte ich durch den Schneeregen zur Bahn rennen und saß tatsächlich wieder im selben Abteil wie auf dem Hinweg, was ich an den Aufklebern erkannte, die VFL-Wolfsburg-Ultras (so etwas gibt es?) an die Scheibe geklebt hatten. Auf dem Heimweg las ich "Der kleine Bagger" von Reprodukt, ein Buch, das die Abenteuer eines Baggers auf einer Baustelle beschreibt, ich freue mich schon darauf, es vorzulesen, was besonders schwer ist, da es keine Worte enthält.
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Köstlicher Überblick. Glück gehabt, dass die Anschlüsse geklappt haben, ging nicht allen so. Die haben jetzt z.T. schwere Erkältungen. Zu Rumänien: Da ich gerade in ihrer Bedienungsanleitung auf der Zielgeraden bin, kann ich nachvollziehen, dass nur durch Wiederlesen der Kenntnisstand erhalten werden kann.