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Literatur

Zeitminiaturen

Zeitminiaturen

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtSamstag, 30.01.2021

Vielleicht ist ja St. Petersburg, oder Petrograd oder Leningrad und dann wieder auch St. Petersburg die Welthauptstadt der Kurz- und Kürzestprosa, und jeder oder jede, der oder die von dort kam oder vielleicht dort auch nur Station machte, trägt so etwas wie Petersburger Sporen in die Welt, unter deren Oberfläche sich ein Myzel ausbreitet, aus dem unvermittelt an den verschiedensten Orten Fruchtkörper austreiben. Charms, Vvedenskij, Jurjew et al.

Auch Alex Epstein wurde 1971 in Leningrad (St. Petersburg) geboren. Mit acht Jahren zog er sicher im Tross seiner Familie nach Israel. Das steht so lakonisch im Klappentext zu dem Buch „Miniaturen – 111 Storys.“ Die Lakonie dieser Information verdeckt ihren dramatischen Gehalt. Nicht nur dass der Autor als Kind den Freundeskreis wechselte, er wechselte auch das politische System, die Zeitzone, das Klima und wahrscheinlich die Zeit überhaupt.

Es gibt im Buch eine Geschichte, in der ein Großvater, der aus der Sowjetunion nach Israel auswandern will, seine Briefmarkensammlung, um den Zoll zu entgehen, einzeln verschickt, indem er mit den Marken Briefe frankiert. In den Couverts stecken Liebesbriefe an seine Frau, geschrieben auf der Rückseite des Manuskriptes zu Schostakowitschs Leningrader Symphonie.

Zeitarchitektonisch gerät da einiges ins Wanken. Die Lakonie der Erzählung lässt aber Zweifel an ihrer Richtigkeit kaum zu. Was erzählt wird mag zuweilen die Fakten verschieben, die Wahrheit dessen aber liegt in einer andren Sphäre. Außerdem ist es sehr unterhaltsam, wenn der Leser sich beim Zweifeln erwischt, oder dabei, wie er altklug versucht, die Informationen der Richtigkeit nach zu ordnen.

Und vielleicht ist das ja der Grund, warum sich Epsteins Kürzestgeschichten, die nun im Verlag Moloko Print in einer Übersetzung aus dem Hebräischen von Pociao erschienen sind, zwischen Archaik und Sciencefiction ansiedeln, und warum ein wiederkehrendes Motiv in ihnen das der Zeitreise ist. Das zumal der Möglichkeit, oder Unmöglichkeit einer Reise durch oder in der Zeit. Einerseits ist das mit der Frage verbunden, ob es eine Veränderung darin überhaupt gibt und andererseits, wenn es sie gibt, was sich verändert: der Reisende oder die Welt, oder vielleicht auch nur die Welt des Reisenden.

Das Erstaunliche vor allem an diesen kurzen, manchmal nur einen Satz langen Texten ist, dass sie mit all ihrer Lakonie quasi unendliche Reflexionsräume öffnen.

Ich erinnere mich, so etwas vor ein paar Tagen schon einmal formuliert zu haben. Und zwar in einem Text zu einem Buch von Yanara Friedland, hier genau auf dieser Seite. Und ich beginne langsam zu glauben, dass es einen Zufall nicht gibt.

Im Buch findet sich ein Nachwort von Natasha Gordinsky, dass von Susanne Zepp übersetzt wurde. Darin geht sie, neben der Anmerkung, dass die Autobiographie, so sie als Material Verwendung findet im Text verschwindet, vor allem auf die Frage nach der Heimat ein. Auch dieses Thema verbindet Epstein mit Friedland.

„Das finden eines neuen Ortes, nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, ist ein Prozess der nicht in einer starren Einwanderungserzählung chronologisch als eine Geschichte mit Anfang und Ende erzählt werden kann. Migration ist in Epsteins Texten eine kontinuierliche kulturelle und Phänomenologische Erfahrung, die nur bruchstückhaft oder als eine Reihe von Schnappschüssen dargestellt werden kann, als Mikro-Fiktionen von Zugehörigkeit.“

Und derlei Mikrofiktionen liefert Epstein in diesem Band. Als in Petersburg geborener hat er auch den spezifischen Humor, der mit dieser Stadt verbunden zu sein scheint, nicht verlernt. Und da kann es in einer Geschichte schon mal vorkommen, dass ein Zeitreisender seine Tür nicht öffnen kann, weil seine Frau das Schloss ausgetauscht hat.

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