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Literatur

Die Liebe zum Notat

Quelle: privat

Die Liebe zum Notat

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtSonntag, 19.04.2020

Vor mir auf dem Tisch liegt umzingelt von Büchern ein Buch, das den Vorteil bietet, dass ich immer wieder nach ihm greifen kann und sofort in der Lektüre verschwinde. Dieses Buch fordert mich geradezu heraus, bevor ich morgens etwas anderes mache, frühstücke oder einen Unterricht vorbereite, erst ein mal ein paar Passagen in ihm zu lesen. Es heißt "Klebebilder" und ist von Georges Perros. Übertragen aus dem Französischen hat es Anne Weber. Dieses Buch ist eine Feier des freien Gedankens, und Perros tritt als sein Hohepriester auf. Nicht aber ohne Perücke und nie, ohne den Gedanken zu schminken, und so gerade erst kenntlich zu machen.

Perros lebte von 1923 bis 1978, arbeitete unter anderem als Schauspieler und veröffentlichte neben Gedichten und einem Versroman, der unter dem Titel „Luftschnappen war sein Beruf“ ebenfalls in einer Übersetzung Anne Webers auf Deutsch vorliegt, mehrere Bände mit Aufzeichnungen, Notaten. Diese Aufzeichnungen bewegen sich von aphoristischen Anmerkungen über Beobachtungen bis hin zu Kurzessays.

Einer der Aphorismen lautet:

Man irrt sich nicht, man verändert sich.

Der Verlag hat Lesern wie mir einen großen Gefallen getan, indem er das tausendseitige Buch mit gleich zwei Lesebändchen versehen hat, denn das gestattet einerseits eine systemaische von Anfang-bis-Ende-Lektüre, als auch ein Flanierlesen, getrieben vom Zufall des irgendwo Aufschlagens und des Blätterns. Beide Arten des Lesens scheinen mir für dieses Buch angemessen.

Ich gebe es zu, ich bin ein Leser mit relativ kurzem Atem, bei längeren Texten, Romanen, die die 300 Seiten überschreiten, werde ich schnell und zumeist nervös, weil sich neben mir auf der Ablage soviel angesammelt hat, was sich sicherlich zu lesen lohnt, was gelesen werden will. Unbedingt, und wenn es geht, ganz schnell. Das geht mir schon so, seit ich in der Schule war und meine Freizeit dann in einem Kreis von lesenden Freundinnen und Freunden verbrachte. Wir waren Abiturienten im Karl-Marx-Stadt der Achtzigerjahre. Ein Freund im Kreis war mit einer Frau liiert, die in einem der größten Antiquariate der Stadt arbeitete. Das war Segen und Fluch zugleich, Segen, weil sie uns Lesestoff versorgte, an den in der DDR schwer heranzukommen war, und Fluch, weil deshalb der Bücherstapel am Kopfende meines Bettes immer weiter anwuchs, obwohl ich täglich ein paar Stunden damit zubrachte, ihn abzuarbeiten. Dank der Freundin des Freundes lag da im Übrigen auch etwas Literatur, die in der DDR verboten war, unter anderem Menschliches Allzumenschliches von Friedrich Nietzsche, das ich sogar vor meiner Mutter versteckte, denn sie war Lehrerin und wie man so sagte politisch „auf Linie“. 

Es war im Übrigen eine kuriose Situation, von der ich damals noch nichts wusste; einerseits galt Nietzsche einigen führenden Kulturpolitikern der DDR als Vorläufer faschistischer Ideologie, sie klammerten sich dabei wahrscheinlich an den Begriff des Übermenschen aus dem „Zarathrustra“, andererseits aber saßen im Weimarer Nietzsche-Archiv zwei kommunistische Italiener, um Nietzsches Werk für eine kritische Gesamtausgabe aufzuarbeiten, anhand der er sich als alles andere denn als faschistischer und antisemitischer Denker erwies. Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus, sondern mir geht es um die Form, das Aphoristische, den Gedanken und das Sprunghafte im Notat.

Und eben jene frühe Leseerfahrung holt mich nun bei Perros wieder ein. Ich spüre eine Verwandtschaft im Denken, werde aber auch der Zeit gewahr, die zwischen mir und dem Autor liegt, wieder sind da die zwei Lesebändchen, von denen eines das Einhaken und das andere den Fortgang markiert.

Ich entwickelte über die Jahre jedenfalls eine Vorliebe für Texte und Textsammlungen, in denen das Notat eine große Rolle spielt, diese sich der genaueren Zuordnung entziehende Form, der auf dem ersten Blick etwas Zufälliges anhaftet, als wären die Gedanken dem Autor oder der Autorin im Moment des Schreibens oder kurz davor gerade zugeflogen.

Aber so ist es natürlich nicht, ein zufälliges Ereignis mag sie ausgelöst haben, doch entspringen sie einem inneren Exkurs, den der Schreiber mit sich selbst und seiner Bibliothek zuweilen in Abgeschiedenheit führt, oder einem äußeren, den Medienreden und Gesprächen seiner Umgebung ausgesetzten. In beiden Fällen ist der Schreiber oder die Schreiberin wohl eher Katalysator des Gedankenganges.

Und vielleicht ist auch deshalb die Sache mit den zwei Lesebändchen bei dem Perros-Buch geradezu zwingend. Einerseits gelingt es mir, lesend vielleicht so etwas wie einen Autor in seiner Zeit, auch in den gedanklichen Verwerfungen seiner Zeit zu rekonstruieren, und andererseits kann ich mich dem Zufall und dem flanierenden Lesen anheim fallen lassen. In beiden bin ich jedenfalls schon mittendrin und wir werden sehen, wie ich mich verändere. 

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Kommentare 1
  1. ursula drees
    ursula drees · vor mehr als 4 Jahre

    Der Autor kann schreiben. Gott Lob, verwendet er nicht, wie so oft üblich, das Wort „komplett“. Er kann so gut mit Worten umgehen, dass ich den Artikel, trotz Desinteresse an dieser Art von beschriebenen Büchern, gelesen habe und überlege, doch in die Bände hineinzuschauen. Vielen Dank. Mein Horizont steht vor einer Erweiterung.

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