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Literatur

Leib & Seele

Leib & Seele

Annett Gröschner
Schriftstellerin und Journalistin
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Annett GröschnerDienstag, 21.02.2017

Zehn Tage im Februar komme ich nicht zum Lesen, zehn Tage im Februar gehe ich ins Kino, denn da ist Berlinale und ich freue mich auf die Fanfare, die schon Jahrzehnte keine Fanfare mehr ist, sondern ein Jingle mit Feuerwerk. Ich sitze meistens in der ersten Reihe, weil ich nie rechtzeitig zum Einlass da bin oder erst in der letzten Minute eine Karte bekomme. Ich bin eine Berlinale-Gängerin, die sich treiben lässt, je weiter entfernt der Film von meinem Leben, desto besser ist es. So geriet ich an einem späten Samstagabend in einen Wettbewerbsfilm, der mich nur deshalb interessierte, weil es im Kurztext hieß, zwei Personen träumten nachts denselben Traum, nicht den gleichen. Der Film hieß Testről és lélekről, On Body and Soul, sollte der Film es jemals in ein deutsches Kino schaffen, hoffentlich Leib und Seele. „Körper und Seele“ wäre unpassend.

Die beiden Träumer sind Endre mit dem gelähmten Arm, der wenig Worte macht und Mária mit den Sozialphobien und den autistischen Handlungen. Sie möchte nicht berührt werden und hat Angst zu berühren. Die Arbeit als Qualitätsprüferin in einem Schlachthof lässt sie seltsamerweise unberührt, im Gegensatz zu ihrem mehr als doppelt so alten Vorgesetzten, dem Wirtschaftsdirektor Endre, der schon lange nicht mehr unten in der Schlachtanlage war und zu einem bulligen Bewerber sagt, wenn er nicht fähig sei zum Mitleid mit der Kreatur, würde er die Arbeit nicht aushalten. Es ist eine Welt voller Blut, Gummischürzen und Plasteteller; es gibt wenig Dialoge, deren feines, leises Ungarisch einen Kontrast bildet zu den harten Bedingungen des Schlachtbetriebes. Denn die Kamera sieht den Kühen, die in die Schlachtvorrichtung gesperrt werden, in die Augen, während das Bolzenschussgerät seine Arbeit macht. Es sind ähnliche Augen wie die der Hirsche im verschneiten Wald, von denen Mária und Endre Nacht für Nacht träumen und die nur ihrer Wildheit wegen nicht in einem gekachelten Geviert verenden. Die Traumszenen hätten leicht in Kitsch abgleiten können, aber das Gegenteil ist der Fall, der Film ist so fein austariert, dass die Qualitätskontrolle der äußerst exakten Mária ihm die Bestnote geben würde. Im Betrieb gilt sie bald als menschlicher Roboter, weil sie das Schlachtvieh als mindere Qualität einstuft, wenn es drei Millimeter zu fett ist. Sie hat ihre Vorschriften, die sie exakt ausführt.

Es sind Kleinigkeiten, die die nachhaltige Wirkung erzeugen und den Film im Gedächtnis halten. Jede Nacherzählung wird ihm nicht gerecht. Mária übt die Berührung, Gras, Sonne, die Hand im Kartoffelbrei. Endre hat mit Nähe abgeschlossen und zieht seinen Arm hinter sich her. Ihre Beziehung, die sich in Zeitlupe entfaltet, ist wie der Lichtstrahl im Geviert des Schlachthauses, in den Endre sein Gesicht hält und vor dem Mária erschrickt. Wie die Regisseurin Ildikó Enyedi und ihr Kameramann Máté Herbal die inneren Widerstände der Figuren nach außen tragen, ist beeindruckend, schön und tief verstörend.

67 Mal fand die Berlinale statt. Erst fünfmal haben Regisseurinnen einen Goldenen Bären bekommen (auch wenn die Statue von einer Frau, Renée Sintenis, gestaltet wurde). Die erste war Márta Mészáros, das ist 42 Jahre her, dann kamen eine Russin (die wunderbare, aber leider schon fast vergessene Larissa Schepitko), eine Bosnierin und eine Peruanerin. Und nun wieder eine Ungarin, was – allen politischen Widrigkeiten zum Trotz – immer noch für das Filmland Ungarn spricht.

Jetzt geh ich wieder lesen.

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