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Literatur

Elvis auf der Rippe

Elvis auf der Rippe

Annett Gröschner
Schriftstellerin und Journalistin
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Annett GröschnerDonnerstag, 31.05.2018

Neulich war ich in einer meiner zwei Lieblingsbuchhandlungen und verlief mich in die Kinderbuchabteilung, wo ich mich festlas. Das Kind in mir wird in solchen Momenten immer größer als die Erwachsene und hätte liebend gerne seinen Großvater aus dem Grab zurück, der mit großer Geste übers Regal streift und sagt: Such dir aus, was du magst, von mir aus auch alle Bücher, die Dir gefallen, aber beeil dich. Für so viel Großzügigkeit reicht mein Honorar nicht, für Empfehlungen aber schon. Ein Buch war darunter, das meinen (erwachsenen) Neigungen so sehr entspricht, dass ich es gerne selbst geschrieben hätte: „In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte“, erzählt von Alexandra Litwina und gezeichnet von Anna Desnitskaya. Ein Bilderbuch, das wie ein russischer Roman à la Tolstoi daherkommt (einschließlich Stammbaum zum besseren Verständnis der Verwicklungen der Familienmitglieder) und gleichzeitig Sergej Tretjakows „Biographie des Dings“ zitiert. Denn den Anfang machen die Dinge. Sie werden in eine leere Moskauer Wohnung getragen und bleiben dort länger als die Menschen. Das Sofa zum Beispiel, auf dem mehrere Generationen verbringen, und der Regulator, der zuverlässig die verschiedensten Zeiten anzeigt, sind bis zum Ende dabei. Dazwischen: das „Russische Jahrhundert“, wie der Slawist Fritz Mierau sein 20. Jahrhundert genannt hat. Das Buch beginnt im Jahr 1902, als Familie Muromzew in den Neubau zieht. Ilja Stepanowitsch Muromzew ist Arzt, neben der Familie gibt es noch eine Köchin, das Kindermädchen und den Parkettreiniger. Auch jedes Tier wird mit Namen, Geburts- und Todesjahr aufgeführt, beginnend beim Pudel Tresor, der 12 Jahre leben wird.

Es ist eine großbürgerliche Wohnung mit Dienstboteneingang und Kammer für die Köchin, großer Küche, Salon und Schlafzimmer, Kinderzimmer, Arbeitszimmer und dem Zimmer für Tantchen. Das Wasser kommt heiß aus der Leitung. Bad und Toilette sind räumlich getrennt, was sich im Laufe der nächsten hundert Jahre noch als ein Segen herausstellen wird.

Zwischen Zeichnungen und Texten sind faksimilierte Dokumente – Postkarten, Ausweise, Zeitungsausschnitte, Lebensmittelkarten, dazu Gedichte, Rezepte und die Lebensmittel der Zeit. Selbst die Gegenstände, die 1919 im Kanonenofen verfeuert wurden, werden aufgezählt. In jedem der 13 dargestellten Jahre zwischen 1902 und 2002 erzählt ein Kind die Geschichte aus seiner Sicht. Es ist ein reichhaltiges Buch, voller Leben, vor allem in der Zeit der Einquartierungen, als aus der Bürgerwohnung eine Kommunalka aus lauter zusammengewürfelten Familien und Einzelpersonen wird, als auf der Toilette jede Familie einen eigenen Toilettendeckel hat, mehrere Gasherde in der Küche stehen und Schrankungetüme die Zimmer teilen. 1927 kommt man auf 16 Personen in der Wohnung, Moskau wächst zu schnell. 1937 wird ein Teil von ihnen abgeholt und kehrt nicht zurück, 1941 ziehen die nächsten in den Krieg und die Farben werden düsterer im Buch, weil verdunkelt werden muss. 1945 kommt wieder Licht in die Bilder, aber die Männer fehlen oder ihre Gliedmaßen sind nicht mehr vollzählig, andere wurden ermordet. Das Spielzeug verändert sich, Haushaltsgeräte kommen dazu und verschwinden wieder, 1953 stirbt Stalin, 1961 fliegt Gagarin ins All, 1973 kommen die Hippies, und Familienmitglied Friedrich Stejn möchte nach Israel ausreisen, aber man lässt ihn vier Jahre nicht raus (später arbeitet er bei Apple in Amerika). Manches war mir neu, zum Beispiel dass in den siebziger Jahren im Underground Westschallplatten auf alten Röntgenaufnahmen kopiert wurden und auf dem Plattenspieler abgespielt werden konnten. Das nannte sich dann „Musik von der Rippe“.

1987 kommt eine alte Tante zu Besuch, die ins französische Exil gegangen war und die Restfamilie fängt an, sich für die eigene Geschichte zu interessieren. 1991 halten amerikanische Care-Pakete die Versorgung aufrecht, der Rubel ist nichts mehr wert und ein Hochschulstudium auch nicht. Schließlich kommen 2002 die in aller Welt verstreuten Mitglieder der Familie Muromzew zusammen, um den 92. Geburtstag der Babuschka zu feiern, in jenem Café ALTE WOHNUNG, das die Wohnung nun beherbergt.

Vor einem Vierteljahr habe ich mit meiner syrischen Tandempartnerin Widad Nabi Essays über das Literaturhaus in der Fasanenstraße geschrieben. Und wir kamen beide unabhängig voneinander zu der Erkenntnis, das Häuser mehr sind als die Ansammlung von Steinen, dass in ihnen Leben gespeichert ist, das manchmal, oft nachts in den Träumen, zu uns spricht.

Widad schrieb den Satz, der mir sehr gefiel: „Seelen verlassen ihre Ursprungsorte nicht. In meinem weit entfernten Land erzählen die Großmütter: Wenn jemand stirbt, bleibt seine Seele im Haus. Sie kreist so lange um das Haus herum, bis sie all ihren Lieben begegnet ist.“

Auch in der alten Wohnung in Moskau geistern eine Menge Seelen herum. Die immer gleichen vier Wände in hundert Jahren – und der ganze Kosmos der Existenz als Rührstück. Sehr zu empfehlen. Für Russlandunkundige gibt es ein hervorragendes Glossar.

Alexandra Litwina (Text ) und Anna Desnitskaya (Bilder): In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte, Hildesheim: Gerstenberg, 2017, 24,95 €, ab 12 Jahren.

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