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Literatur

Mein kleiner Buchladen – frische Bücher: Sterben im Sommer

Mein kleiner Buchladen – frische Bücher: Sterben im Sommer

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnMittwoch, 09.09.2020

Als ich an einem dieser Nachmittage in Balatonfüred weit hinausgeschwommen und dann aus dem Wasser gestiegen bin, hat mich jemand am Ufer, an den Treppenstufen, die in den See führen, angesprochen und anerkennend gesagt: Na, das war aber eine jó úzsás! Ich habe gelacht und erwidert, ja unbedingt, das war es, eine jó úzsás! Es meint das Gefühl, es spricht das Große, Freie und Schwerelose darin an, die Stunden der Leichtigkeit im sommerwarmen Wasser, es meint das ausgiebige Im-Wasser-Sein, das nicht enden will, für das es keine Zeit gibt. Das hatte unser Vater uns früh beigebracht, miteinander im Wasser zu sein, vielleicht war es das Erste, was er meinem Bruder und mir beibrachte, nahebrachte und das uns ohne Worte, ohne Erklärungen immer auf natürliche Weise verbunden hat. Das hat er in allen Sommern hier mit uns geübt und geteilt: die Liebe zum Wasser, das gute Schwimmen, diese großartige, phantastische Schwimmerei - diese jó úzsás.

Meine Mutter liebte die Sonne. Im Frühling ließ sie ihre Hüllen fallen und sonnte sich. Auf Wiesen, beim Pilzesuchen, Äpfelpflücken und wenn wir wanderten. Lasst mich hier, ich sonne mich. Es war Hochsommer, als sie erfuhr, dass sie sterben würde, und noch nicht Winter, als es soweit war. Durch die Linde im Hof des Altstadt-Krankenhauses in Magdeburg, in welchem wir in verschiedenen Jahrzehnten Krankenschwestern waren, fiel Novemberlicht tanzend auf ihr Bett.

Ich bin aufgebrochen, um meinen kranken Vater in seinen Ungarnsommer zu fahren. Ihn im Dorf abzusetzen, vielleicht an den Balaton mitzunehmen. Ihn noch einmal diesen Walnussbaumsommer spüren zu lassen, einmal noch im Café am Kisfaludy-Strand ein gekühltes Soproni für ihn zu bestellen und mit ihm aufs weite Blau zu schauen.

Ich war nicht bei ihr, als sie starb. An ihrem ersten Morgen wieder zu Hause (nachdem alle Therapien sich als umsonst erwiesen hatten) sah sie jemanden hinter sich sitzen und schaute ängstlich über ihre Schulter - sagte mein Vater, als wir telefonierten. Wir ahnten beide, was das hieß. Sagten aber, komm nicht. Und - ich komme nicht. Wenn sie sich ansteckt... Ich hatte eine Lungenentzündung, zwölf Stunden später war es egal.

Sterben passt offenbar nicht zu diesem Blau, das sich auf meiner Fahrt zurück zwischen Pannonhalma und Zirc unter die wenigen Wolken pinselt. [...] Ich kann mit den Jahreszeiten meines Lebens nicht umgehen, besser: Mit dieser Jahreszeit meines Lebens kann ich nicht umgehen. Ich wiederhole für mich: Zum Sommer passt das Sterben nicht. Sterben gehört zum Winter.

Zwei Wochen nach ihrer Beerdigung fiel Schnee. Als es wieder Sommer wurde, war ich schwanger. Mehr und mehr wurden es die schönen Dinge, die ich mit ihren Augen sah, immer seltener ist es ein Geruch, eine Farbe oder ein Lied, das mich wegschwemmt. Ihr Grab ist inzwischen eingeebnet, ich denke beinahe jeden Tag an sie.

In der Nacht ist mein Vater gestorben. In einer Nacht dieses übertrieben heißen, reglosen Jahrhundertsommers, der uns vom Ende der Welt eine vage Vorstellung gegeben, Erde und Felder ausgedörrt und in Staub verwandelt hat, in braungelb dämmernde Wüsten. Als niemand bei ihm war.

Mit ihrem neuesten Buch Im Sommer sterben schreibt Zsuzsa Bánk von diesem Abschied. Persönlich, schonungslos und ausführlich. Es ist ein Nach-Denken über den Vater, die eigene Art des Abschiedes, des sich Erinnerns und Trauerns, vor und nach dem Tod eines geliebten Menschen. Es berührt, weil jede und jeder sich in wenigstens einer Zeile wiederfindet. Ich habe das erste Mal auf Seite 20 geweint. Ein ganzes Jahr lang erfahren die Eltern in Ungarn nicht, ob ihrer Tochter 1956 die Flucht in den Westen geglückt ist, bis jemand vom Roten Kreuz die Idee hat, kleine Botschaften der Flüchtlinge über den Sender Freies Europa zu senden. Im Dorf am Balaton hört ein Mann die Botschaft "Ili, Inka und Teri haben es über die Grenze geschafft und sind in Deutschland" und macht sich auf den Weg, seinen Nachbarn Bescheid zu sagen. Diese Stelle scheint mir aus Zsuzsa Bánks Debüt herüber und ich sehe ihre Eltern jetzt im Zeitstrahl vor mir, jung und alt, weggehend und wiederkommend. Im Hintergrund das Blau des Balatons.

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 4 Jahren

    Es war Hochsommer, als sie erfuhr, dass sie sterben würde, und noch nicht Winter, als es soweit war.... was für ein satz... puh

  2. Andreas Schabert
    Andreas Schabert · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

    Ein sehr berührender Text.

    Und: Heute ist der 25. Todestag meines Vaters.

    „Der Schwimmer“ hatte ich damals auf deinen Piqd hin gelesen, und war begeistert. Daher klar, dieses Buch hier ist mein nächstes.

    Einige Tage später: das Buch angefangen und tatsächlich fand ich den Anfang genauso berührend und schön wie ich das Buch nach diesem piqd erwartet hatte. Nach 80 Seiten beschloss ich dann aber: genug. Nachdem der Vater zurück nach Deutschland transportiert war, in einem Klinikum in Frankfurt liegt, wurde es zu schwer und anstrengend. Mir ist klar, dass das Thema Sterben und Intensivmedizin harter Stoff sind, aber hey: wir alle müssen mal sterben. Wenn der 85-jährige Vater sterbenskrank wird, ist das kein Grund, mit dem Schicksal zu hadern, sondern der Lauf der Zeit.

    Sicher, wenn du persönlich in der Situation bist, einen geliebten Menschen zu verlieren und noch konfrontiert mit der scheinbar unmenschlichen Atmosphäre im Krankenhaus, wirst du schwach und dünnhäutig und reagierst womöglich hysterisch auf unangenehme Dinge (der Mutter verbieten, in Anwesenheit des Vaters zu weinen; oder ausflippen über die Warterei vor den Klinikaufzügen). Mich hat das dann genervt, oder vielleicht traf es auch einen bestimmten Nerv. wie gesagt, vor 25 Jahren starb mein Vater, wesentlich jünger, auf der Intensivstation nach wochenlangem Koma, in das er urplötzlich gefallen war. Meine Mutter wurde mit 59 Jahren Witwe und lebt noch. ich bin jetzt 60 Jahre alt und dachte letzte Woche viel darüber nach...

    ich leg das Buch weg und lese nochmal den Schwimmer. Obwohl: die Schwimmsaison ist nun auch zu Ende...

    1. Anne Hahn
      Anne Hahn · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      danke für dein langes nachdenken, lieber andreas - es ging mir am ende ähnlich mit der länge des buches, aber ich dachte, ich sei nur zu "abgehärtet"...

  3. Yvonne Franke
    Yvonne Franke · vor 4 Jahren

    Ich liebe Deine Texte, Anne. Und vielen Dank für die Empfehlung!

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