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Literatur

Mein kleiner Buchladen: Anstreichungen – Mein Lieblingsbuch

Mein kleiner Buchladen: Anstreichungen – Mein Lieblingsbuch

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSonntag, 12.01.2020

Er kehrte zu Fuß ins Hotel zurück, vorbei an wackligen niedrigen Zäunen mit einem abgeblätterten Anstrich, der zusammen mit alten Wahlplakaten Collagen bildete. Die Zäune umgaben Holzkaten, die den gleichen rissigen Anstrich und oft auch herausgerissene Fenster, und hinter ihnen verlor sich ein Band hässlicher, schachtelförmiger grauer Plattenbauten mit auskragenden betonierten Gehwegen in der Ferne.

Dieser Abschnitt und die anderthalb folgenden Seiten sind mit blauem Kuli durchgestrichen, kreuz und quer. Ich leide mit den Büchern, in denen durchgestrichen, angestrichen, angemerkt wird und wurde. Dabei bin ich selbst eine schlimme Sünderin. Als Kind eines peniblen Büchersammlers schaffte ich es zwei Mal, Bücher/Hefte, auf welche ich besonders Acht geben sollte (ein mühsam besorgtes Karl-May-Buch für den Geburtstag meines Bruders und ein frühes Mosaik-Heft der Digedags) in die Badewanne fallen zu lassen. Seitdem weiß ich, was Wasserschaden heißt. Und wann Vertuschungsmaßnahmen sinnlos sind. Vor knapp zehn Jahren eröffneten mein Freund und ich unser Online-Antiquariat, mit Hilfe einer Annonce auf Ebay-Kleinanzeigen, laut der fünf Bücherschränke mit Inhalt verschenkt werden sollten. Das war der Anfang vieler wundersamer Begebenheiten. Von unseren ersten Büchern dieses Germanisten und Gymnasiallehrers in Berlin wird ab und an noch eines verkauft, ich erkenne das schnell an der wiederkehrenden Artikelbeschreibung „viele Bleistiftanmerkungen“. Der Herr hat quasi in jedes seiner Bücher Notizen geschrieben, Zeilen unterstrichen.

In seltenen Fällen werden Anmerkungen wertgeschätzt oder gar archiviert und katalogisiert – wie im Fall des Nachlasses des Schweizer Theologen Karl Barth: "Mittlerweile sind alle 14.000 Bücher inventarisiert, die sich im Haus befinden – und alle Notizen, Anstreichungen und eingelegten Zettel erfasst, die Barth bei der Lektüre oder der wissenschaftlichen Arbeit mit den Werken hinzugefügt hat."

Antiquare sind gewöhnlich eher damit beschäftigt, Lesespuren zu beseitigen. Zum richtigen Ausradieren können Tipps in Foren und Blogs eingeholt werden, Eselsohren werden ausgebügelt, Katzenstreu soll Feuchtigkeit und Gerüche entziehen. Stark schief gelesene Bücher – Tipp einer befreundeten Autorin – rückt man wieder gerade, indem es von hinten durchgeblättert wird und jede Seite nach links ausgestrichen. Ist meditativ und als Rückwärtslektüre eine schöne Würdigung. Aber was tun mit Kugelschreiber-Notizen? Vor einigen Monaten landete eine Kiste mit Romanen bei mir, die arg misshandelt wurden. Notizen im Vorsatz, geknickte Seiten, Kuli-Durch- und Anstreichungen. Ich empfinde es als Wertung, Vorgriff, ja als Zumutung – ein Buch zu lesen, welches solchermaßen "gezeichnet" ist. Natürlich wird auch eine voyeuristische Ader bedient, was hat der andere für wichtig erachtet, gar verachtet? Beides lese ich gleich aufmerksam. Aber kann ich diese Bücher weiter verkaufen? Ich schleppte viele von ihnen mit nach Hause, las einige und dieses hier lässt mich nicht los.

"Mein Lieblingsbuch" ist der zweite Roman von Markéta Pilátová. Die 1973 geborene tschechische Autorin lebte mehr als fünf Jahre in Argentinien, Brasilien und Mexiko – wie ihrem Buch deutlich anzumerken ist. In einem fiktiven südamerikanischen Land spielend, erzählt der Roman die Geschichte eines Schlangenforschers (Vidal) und seines Institutes, einiger seiner Angestellter (Otto und Yan) und Angehöriger (Stinkehugo, Pula) – sowie die eines Tätowierers und seiner Schützlinge. All dies in einem magischen, surrealen Ton, durchtränkt mit Gewalt und Mythen – und dem Gesang der Schlangen. Eine Reise nach Polen (obiges Zitat) spielt ebenso eine Rolle wie ein osteuropäisches Märchenbuch, blutrünstige Hunde und ihre brutalen Gangsterherrchen, eine schöne Polizistin und korrupte Wissenschaftler. Was sich anfangs kompliziert entspinnt, wird behutsam aufgedröselt – jeder Handlungsstrang findet ein (glaubhaftes) Ende. Genial beiläufig entwirft Pilátová die Liebesgeschichte von Vogel und Pajita – meinen Lieblingsfiguren dieses meines neuen Lieblingsbuches.

Einmal bestieg Vogel den Zug, zog wie immer seine Show ab, sammelte das Geld ein, doch als er aussteigen wollte, bemerkte er, dass auf einem Fensterplatz ein kleines Mischlingsmädchen mit Augen, die die Farbe von hochwertigsten Erdöl hatten, saß, sie blickte abwesend aus dem Fenster und hatte auf ihrem Schoß ... ja, ist das möglich? Nein! Das kann nur eine Sinnestäuschung sein! Er schaute nochmals auf ihre abgewinkelten Knie. Tatsächlich lag dort eine zusammengerollte grüne Schlange.

Vogel und Pajita lernen sich kennen und wir sie, und auf den folgenden zweihundertdreißig des knapp vierhundert Seiten langen Romans wird einiges ausgestrichen, betont, korrigiert. Jetzt wird mir erst richtig bewusst, dass jemand eingegriffen hat. Die Großmutter, eine dunkle eiskalte Schönheit mit Mandelaugen – gestrichen aus Ottos Erzählung seiner polnischen Herkunft, den Bürgermeister ebenso. Notiert, wenn die Schlange Haré wieder auftaucht. Schweigt, wenn Pajita, das Schlangenmädchen, den Stimmen der Schlangen lauscht. Vielleicht erging es diesem Leser so wie Javier Marías, der der FAZ gestand,:

Früher schrieb ich mir in den Büchern meiner Schriftstellerkollegen an den Rand, was auch ein Lektor hätte schreiben können, mit dem Unterschied, dass ich mir schonungslose Ehrlichkeit erlaubte. So viele zeitgenössische Bücher wären zu verbessern! Manche machten auf mich den Eindruck, nur Entwürfe von Büchern zu sein, so dass meine Kommentare diesen provisorischen Zustand widerspiegelten: Hier setzte ich ein Fragezeichen, dort ein Ausrufezeichen, manchmal schrieb ich an den Rand: „Kitsch!”

Pilátová, Markéta: Mein Lieblingsbuch. Aus dem Tschechischen von Julia Koudela-Hansen-Löve und Christa Rothmeier. Wien: Braumüller, 2012, ISBN-13: 978-3-99200-076-0

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