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Literatur

Eine vollkommene Leidenschaft

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelSonntag, 31.05.2020

Das Cover ist natürlich der Knaller. Annie Ernaux: "Eine vollkommene Leidenschaft – die Geschichte einer erotischen Faszination", Goldmann 2004 (Deutsch von Regina Maria Hartig – "für alle Leser von Catherine Millet und Zeruya Shalev"). Das Buch entdeckte ich zufällig im Blog von Rudolf Thome, den ich hier auch schon mal vorgestellt hatte und dem es von seiner "französischen Freundin" empfohlen worden war. Die Aufmachung ist insofern ein Trost, als dass sie mich an das Alptraum-Cover meines ersten Romans "Große Ferien" erinnert (Knaur 2000, mit Leuchtturm und Foto-Insert).

Passion simple heißt die in Frankreich 1992 erschienene Erzählung im Original, deren Autorin inzwischen auch bei uns längst ein durchgesetzter Suhrkamp-Star ist. Die Goldmann-Ausgabe war noch vor dem fame, und ich hab sie mir sofort beim Secondhand-Online-Dealer besorgt.

Nach dem Motto von Roland Barthes – „Nous deux – die Zeitschrift – ist obszöner als de Sade“ (Noux Deux ist ein französisches People-Trash-Magazin zwischen Bunte und Neue Post) – beginnt das Buch damit, wie Annie Ernaux zum ersten Mal einen Porno auf Canal plus guckt.

Sicherlich gewöhnt man sich an diesen Anblick, doch beim ersten Mal bringt er einen völlig aus der Fassung. Tausende von Jahren mussten vergehen, hunderte von Generationen, und erst heute bekommt man das zu sehen: ein weibliches und ein männliches Geschlecht bei der Vereinigung, Sperma; was man früher nicht betrachten konnte, ohne vor Scham zu sterben, ist inzwischen ebenso anstandslos zu beobachten wie ein Händedruck.

"And that goes in that, and this goes in there, and then it's o-o-over", wie Pulp singen würden (This is hardcore, 1998). Annie Ernaux aber erkennt vor allem eine Analogie zum Schreiben:

Es scheint mir, dass der Schriftsteller genau den Eindruck anstreben sollte, den eine solche Inszenierung des Geschlechtsaktes erweckt: diese Beklommenheit und diese Erstarrung, ein Aussetzen des moralischen Urteils.

Dann beginnt sie ihren lakonischen Bericht über eine Affäre, die sie in ihren späten Vierzigern hatte: „Seit September letzten Jahres habe ich nichts anderes getan, als auf einen Mann zu warten …“

Das ist sehr präzise formuliert, denn es geht Ernaux tatsächlich vor allem genau darum: ums Warten, also Schreiben. Der eigentliche "Erzählskandal Ehebruch" wird hier eher als Verlust der Unschuld angestrebt: ein Erkenntnisgewinn im biblischen Sinne, um sich aus der Fraktion der Ersten-Steine-Schmeißer zu befreien, moralische Gewissheiten hinter sich zu lassen, die Perspektive zu erweitern:

Ich empfand für die Menschen eine Mischung aus Mitgefühl, Kummer und brüderlicher Verbundenheit. Ich hatte Verständnis für die gescheiterten Existenzen, die auf den Bänken lagen, für die Kunden der Prostituierten, für eine Zugreisende, die sich in einen Heftchenroman vertieft hatte (aber ich hätte nicht sagen können, was an meinem Wesen ihnen ähnelte).

Über den Mann und die Affäre selbst erfährt man kaum das Allernötigste: "A.", Geschäftsmann aus Osteuropa, verheiratet, vage Ähnlichkeit mit Alain Delon, Männermode von Cerruti, mag schnelle Autos und Alkohol. Kennt im Französischen keine „obszönen Ausdrücke, oder er hatte einfach keine Lust, sie zu benutzen, weil diese für ihn nicht als unfein galten, sondern ebenso unschuldig wie andere Worte waren“.

An diesem etwas umständlichen Nachdenken über den unobszönen A. ahnt man bereits, dass er der Autorin letztlich fremd bleiben wird – und das genau das der Reiz gewesen sein könnte. Er sagt Sachen wie „Liebkose mein Glied mit deinem Mund“, wird sie eines Tages verlassen und provoziert sie: „Über mich schreibst du kein Buch.“ Das macht sie dann natürlich trotzdem. Es wird nicht über ihn sein, und es wird ihr zum entscheidenden, erkenntnisstiftenden Verlust der Unschuld werden.

Zu jener Zeit hatte ich ständig das Gefühl, als erlebte ich meine Leidenschaft irgendwie romanhaft …

das Gefüge der Zeichen, die einen ungeschriebenen Roman über eine Leidenschaft bilden, beginnt sich aufzulösen. Von jenem lebendigen Text ist dieser hier nur ein Überbleibsel, ein kleiner Rückstand. Eines Tages wird er mir, genau wie der andere, nichts mehr bedeuten.

Am Ende hat die potentielle Goldmann-Leserin des Covers also eine traurige Reflexion darüber gelesen, wie wenig vom Leben im kalten Licht der Hochliteratur als erzählenswert übrig bleibt. Es geht bei Annie Ernaux weniger ums Aufbewahren, als ums Überwinden von Erinnerungen: Das Vergessen eines Verlusts - als Negation der Negation - von Zeit, Liebe, Menschen.

Eine vollkommene Leidenschaft

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