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Literatur

Der Abenteuer. Das Freund.

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelMittwoch, 27.11.2019

Da ich selbst gerade an einem Mikro-Roman über Mikro-Abenteuer und Mikro-Freundschaften in der (allerdings großen!) Stadt schreibe, musste ich mir Giorgio Agambens Mikro-Buch "Das Abenteuer. Der Freund." natürlich sofort besorgen.

Das heißt, ich stolperte erstmals im Mai in der FAS über eine Mikro-Rezension von Cord Riechelmann über Agambens Buch (Matthes & Seitz, Edition Fröhliche Wissenschaft, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko). Und brauchte dann noch mal ca. 6 Monate, bis ich das schmale, aber schön aufgemachte Büchlein endlich in den Händen hielt.

Es hat sich gelohnt. Gleich der erste Satz ist der Hammer:

In den Saturnalien des Macrobius behauptet ein Teilnehmer der Tischgespräche, dass nach ägyptischem Glauben einem jeden Menschen bei seiner Geburt vier Gottheiten zur Seite stehen: Daimon, Tyche, Eros und Ananke (der Dämon, das Schicksal, die Liebe und die Notwendigkeit).

Was für ein Einstieg. Saturnalien, Macrobius und vier ägyptische Gottheiten, von denen ich nur zwei überhaupt schon mal gehört habe (Daimon und Eros). Dazu heißt es dann ein wenig erklärend:

Diesen vier Gottheiten, die man weder fliehen noch überlisten kann, hat ein jeder seinen Tribut zu zollen: dem Dämon, weil man ihm Charakter und Wesen verdankt; Eros, weil von ihm Fruchtbarkeit und Erkenntnis abhängen; Tyche und Arananke, weil Lebenskunst nicht zuletzt darin besteht, sich dem Unausweichlichen in rechtem Maße zu fügen. Das Verhältnis, in dem wir zu diesen Mächten stehen, bestimmt unsere Ethik.

Und direkt danach ist Giorgio schon bei Goethe, der 1817 beim Lesen der Abhandlung "Tyche und Nemesis" des dänischen Philologen Georg Zoëga "eher zufällig" (super!) auf die Macrobius-Stelle gestoßen sei, um sie sogleich in seinen "Urworten" zu verwursten, in denen er auf sein Leben zurückblickt ... – und keine Angst, so schlimm geht es nicht weiter:

Denn Agamben (hier ein Vortrag über Widerstand in der Kunst, den er mit ein paar Gedanken einläutet, warum er als Italiener international englisch sprechen muss) weiß vermutlich so viel, dass er sich am Abgrund des zu beginnenden Textes nicht groß mit Grübeln über den perfekten Einstieg aufhalten darf, sonst würde er niemals springen (darüber gibt er in dem unten verlinkten Gespräch mit Arno Widmann sehr schön Auskunft: „Ich verstehe sehr gut, dass Sie den Punkt nicht finden, wo der zitierte Autor aufhört und wo Agamben beginnt. Auch ich kenne ihn nicht.“).

Ein großer Autor ist er dennoch gerade im Kleinen und Gemeinen. Während man sich noch fragt, wann es endlich um Abenteuer (oder wenigstens "aventure") geht, wird praktisch im Vorbeigehen der gesamte Goethe erledigt, der sich in seinem Leben eher als Nicht-Abenteurer auszeichnete. Dafür diagnostiziert Agamben bei ihm einen Aberglauben an den "Dämon" (das Ambivalente in allen Dingen), der es ihm ermöglichte, noch das unbedeutendste Ereignis "dämonisch" und aufschreibenswert zu finden (vgl. a. "Wilhelm Meister").

Am besten gefällt mir Agamben allerdings, wenn es ihm gelingt, zwischendurch ein bisschen Distanz zum eigenen Denken aufzubauen. Was ist ein Abenteuer? Was ist ein Freund? Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen, dass Nachdenken weniger zur Verbesserung, als viel mehr zur Verschlechterung von beidem führt (Gibt es heute noch richtige Abenteuer? Bin ich überhaupt wirklich mit jemandem befreundet?).

Das verdichtet Agamben sehr schön in einer persönlichen Anekdote aus seinem Leben (ohne jedoch zu persönlich zu werden):

Vor vielen Jahren fassten mein Freund Jean-Luc Nancy und ich den Entschluss, uns brieflich über das Thema Freundschaft auszutauschen. Wir waren der Überzeugung, dass dies der beste Weg sei, ein Problem anzugehen, oder besser >>in Szene zu setzen<<, das sich einer analytischen Behandlung zu entziehen schien. Ich hatte den ersten Brief geschrieben und wartete nicht ohne eine gewisse Bangigkeit auf die Antwort. Hier ist nicht der Ort, den Gründen – vielleicht auch Missverständnissen – nachzugehen, die dazu führten, dass das Eintreffen von Jean-Lucs Brief zugleich das Ende unseres Projekts bedeutete. Es steht jedoch außer Frage, dass unsere Freundschaft, von der wir uns einen privilegierten Zugang zum Problem versprochen hatten, eher hinderlich war und sich in der Folge, wenn auch nur vorübergehend trübte.

Besser kann man das Problem von Schreiben und Befreundet-Bleiben vielleicht nicht zusammenfassen – und zu gern würde ich von Agamben einen "Roman" darüber lesen, was die Gründe dieses szenischen Briefwechsel-Missverständnisses zwischen Jean-Luc und ihm gewesen sind.

Aber dafür ist der Autor vielleicht zu klug. Und zitiert lieber Hippokrates, für uns alle zum Trost (oder Weiterdenken):

Das Leben [bios] ist kurz, die Kunst [techne] ist lang, die Gelegenheit [kairos] flüchtig [oxys: >scharf<, >rasch<, >schwer zu fassen<], die Erfahrung [peira] trügerisch, die Beurteilung [krisis] schwierig.

In meinem eigenen Roman über Abenteuer und Freundschaft geht es übrigens um eine auseinanderfallende Tischtennis-Runde im Berlin der Gegenwart. Älterwerden in der Großstadt, trügerische Erfahrung, Krise der Beurteilung. Früher ist man um die Häuser gezogen, hat die Weite von Fußballfeldern oder Tenniscourts umarmt. Jetzt nur noch die Tischtennisplatte. Die Räume werden enger. - Watch out, 2020s!

Der Abenteuer. Das Freund.

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