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Literatur

BEZIMENA

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelSonntag, 30.08.2020
Kennt ihr den Mythos von Bezimena?

Oder: ich bin mir nicht mal sicher, ob das überhaupt ein Mythos ist, den Nina Bunjevac in ihrem neuen Comic erzählt. Beziehungsweise: ob dieses kunstvoll-gemäldehaft dicke Buch überhaupt noch als Comic durchgeht. Aber solche Unsicherheiten und Genresprenger-Gedanken sind ja vielleicht zum Einstieg auch generell erstmal was Gutes, hochliterarisch Intendiertes (... und ja, ich weiß, man soll nicht Comic, sondern Graphic Novel sagen).

Okay, in der Graphic Novel der kanadisch-jugoslawischen Comic-Künstlerin Nina Bunjevac (tatsächlich kanadisch-jugoslawisch, weil in Toronto geboren, dann im Vorbürgerkriegs-Jugoslawien aufgewachsen und dann wieder zurück nach Kanada, wo ihr Vater zum Terroristen wurde, wovon ihr Buch Vaterland handelt), in Bezimena (Avant-Verlag) nun also geht es um eine moderne Adaption des Mythos von Artemis und Siproites (wir erinnern uns - die nacktbadende Göttin der Jagd und der mit Geschlechtsumwandlung bestrafte Spanner): 

Die alte Weise Bezimena wird am Fluss liegend von einer klagenden Priesterin aufgefunden, die ihr vorwirft, wie ruhig sie angesichts allen Elends in der Welt bleiben könne. Woraufhin Bezimena die Priesterin unter Wasser taucht, so dass diese "aufhört zu existieren" und als Benedict, genannt Benny, in einer k. und k.-haften Metropole wiedergeboren wird. Dort entwickelt sich Benny zum sexuellen Sonderling, Spanner und Masturbator, der schließlich Zoowärter wird, um unter Tieren sein zu können, die ihn nicht verurteilen. Dort im Zoo beginnt sich Bennys seltsam verschachtelt-gespiegeltes Schicksal zu erfüllen: beim Spannen findet er das Notizbuch seiner ehemaligen Mitschülerin und erotischen Obsession Becky. Dieses Notizbuch entpuppt sich als pornographisches SM-Malbuch, dessen Skizzen von - Benny handeln und ihm seine eigene Geschichte gewissermaßen handlungsanleitend vorhersagen. Wie im Rausch erfüllt Benny also Beckys gewaltsame Sex-Phantasien aus dem Buch Benny, bis alles in grausamen Verbrechen endet: In einem kafkaesken Prozess entpuppt sich Beckys Buch als noch wesentlich furchtbarere Projektion, Benny erfährt sein vernichtendes Urteil ... - Als Bezimena den Kopf der Priesterin aus dem dunklen Flusswasser zieht und diese anraunt: Wen also beweinst du?

Verstörend an dieser alptraumhaften Rätselgeschichte, in der es immer wieder um Beobachten und Beobachtetwerden geht (das Buch im Buch, das seinen Leser liest), ist nicht nur, dass sie von zwei höchst unzuverlässigen Stimmen im All erzählt wird. Sondern dass Nina Bunjevac sie in aufwendigster Kreuzschraffur gemalt hat, düstere ganzseitige Gemälde von Pinups und Blowjobs, in die die Künstlerin sich in einem meditativen Schaffensprozess versenkt haben muss, als habe sie einen zermürbenden Auftrag von Kafka (oder eben Bezimena) zu erfüllen.

Am Ende scheint die Autorin allerdings selbst aus der düsteren Mehr- und Gegendeutigkeit ihrer Erzählung aufzuschrecken. Unter dem Eindruck der me-too-Bewegung, die sie ausdrücklich befürwortet, berichtet sie im Nachwort von eigenen Missbrauchs-Erfahrungen in Jugoslawien und Kanada. Von falschen besten Freundinnen, fatalen Ambitionen und Abhängigkeiten mit Männern, die sie zunächst faszinierten oder zu denen sie sogar aufschaute. Auch wenn man unweigerlich an aktuelle Fälle aus der Comic-, Kunst- und Indieszene denkt, die sich um Vorwürfe gegen Warren Ellis, Jon Rafman oder Mark Kozelek drehen, nimmt dieses Nachwort einer ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Graphic Novel viel von ihrer Ambivalenz und Wucht.


Im unten verlinkten Video unterhalten sich Lars von Törne und Maria Schroer als nicht ganz so unzuverlässige Stimmen im digitalen All (nach ein paar technischen Anfangsproblemen - "... bin ich noch zu hören?") auf dem diesjährigen Internationalen Comicsalon Erlangen noch mal ausführlich-aufschlußreich über Stärken, Schwächen, Ambivalenzen von Bezimena: Vielleicht kein Mythos, aber eine Lese- und Verstörungs-Empfehlung.

BEZIMENA

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Kommentare 2
  1. Anne Hahn
    Anne Hahn · vor 4 Jahren

    sehr interessant, danke für den tipp! im verlinkten gespräch sind viele der aufwendigen noir-zeichnungen zu sehen - ich kann der argumentation marie schroers gut folgen, dass ihr hier eine "opfer-sicht" fehlt. schade, dass die autorin/zeichnerin ihr werk im nachwort so gebrochen hat...

    1. Andreas Merkel
      Andreas Merkel · vor 4 Jahren

      Danke, Anne! Auch für die gute Ergänzung: vergessen gehabt zu erwähnen, dass im Video auch noch viele Zeichnungen zu sehen sind.

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