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Flucht und Einwanderung

Unpiq: Kein Ort. Nirgends – Warum der Asylkompromiss ein Irrweg ist

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMittwoch, 14.06.2023

Inhaftierungen von Ankommenden; mehr Deals mit Fassadendemokratien wie der Türkei, die stärker zu Diktaturen mutieren; Ausbau der Grenzanlagen; Abbau der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU: Der Asylkompromiss wird nach Meinung nahezu aller Experten die anschwellende Zahl von Menschen auf der Flucht nicht verringern. Auch nicht die noch größere Anzahl der Migranten.

Wer den Beschluss der EU-Innenminister ohne Interpretation lesen möchte, es ist der eigentliche Unpiq, findet hier die Pressemitteilung.

Bei Ankommenden aus der Ukraine gilt der Asylkompromiss nicht, was diesen zum einen hilft, was aber die Hierarchisierung der Flüchtlinge ohne Kenntnis der Ankunftsgeschichten ermöglicht.

Freilich, ein Grund für die Verschärfungen bleibt: Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute. In sechs Grafiken wird die dramatisch zugespitzte Situation in der NZZ erklärt.

Der Schlusssatz lässt aufhorchen:

Für viele ist die Flucht zu einem Dauerzustand geworden: Weltweit sind zwei von drei Flüchtlingen seit über fünf Jahren schutzbedürftig.

In dieser Tatsache zeigen sich überlappende Krisen.

Schon im Vorfeld des "Asylkompromiss" warnte der renommierte Rat für Migration, der die Bundesregierung beraten soll, aber von dieser ignoriert wird. Er plädierte für einen institutionellen Umbau:

Das Europäische Parlament bemüht sich schon seit Jahren, die Härten der Vorschläge des Reformpakets abzumildern und dennoch ein funktionierendes, solidarisches Asylsystem im Sinne der Schutzsuchenden zu entwickeln. Es fordert immer wieder umfassende Evaluationen und Machbarkeitsstudien. Diese Vorgehensweise eröffnet die Möglichkeit einer faktenbasierten und menschenrechtskonformen Asylpolitik, die gleichzeitig einen solidarischen Ausgleich innerhalb der Europäischen Union sucht.

Wäre es daher nicht an der Zeit, dem Europäischen Parlament, der demokratischsten Institution der Europäischen Union, die Herausforderung einer würdigen und nachhaltigen Migrationspolitik für den Kontinent zu übergeben und darauf zu vertrauen, dass es vollbringen kann, woran zahlreiche Kommissionen und Ratstreffen gescheitert sind? Es wäre ein mächtiges Zeichen gegen die jahrzehntelangen Mobilisierungen des Rechtspopulismus gegen Europa und gegen die Migration.

Wie wenig die Verschärfungen des Asylrechts das Gewünschte erreichen werden, zeigt ein Blick zurück zum "Asylkompromiss" von 1993, an den dieser Beitrag erinnert. Einen ähnlichen Ansatz wie vor 30 Jahren wählten nun die Innenminister auf EU-Ebene. Das zeigt auch Stefan Zeppenfeld in dem immer wieder beachtenswerten Schweizer Onlinemagazin "Geschichte der Gegenwart".

Und zuletzt noch mein Interview mit der österreichischen Migrationsforscherin Judith Kohlenberger über die Paradoxien von Flucht und Migration, in dem sie schon im letzten Jahr das Vorgehen der EU kritisiert.

Engelberg: Es ist noch nicht klar, wie viele Flüchtlinge aus dem postsowjetischen Raum noch kommen, da gibt es Warnungen, dass sich 2015 wiederholen könnte. Wie man nicht zweimal in einem Fluss baden kann, geschieht Historie nicht zweimal. So ist die Donau an den EU-Außengrenzen stärker als Barriere ausgebaut als sie es 2015 war, dennoch wird die Balkanroute wieder öfters benutzt. Wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?

Kohlenberger: Das verdeutlicht aus meiner Sicht nur die Untauglichkeit einer 3A-Politik der Abschottung, Abschreckung und Auslagerung von Asylverantwortlichkeit. Seit 2015, also seit mittlerweile sieben Jahren, setzt man fast exklusiv auf diese Taktik, die aber, wie sich nun sowohl in Österreich als auch in Deutschland anhand der steigenden Asylantragszahlen beobachten lässt, nicht zum gewünschten Effekt – einem Rückgang der Schlepperkriminalität und sinkenden Ankunftszahlen – geführt hat. Ganz im Gegenteil. Aus der empirischen Evidenz ist dieses gegenteilige Outcome aber kaum überraschend, wissen wir doch, dass erhöhter Grenzschutz und mehr Grenzkontrolle zu nicht intendierten Substitutionseffekten führen kann, etwa dass Migranten auf immer gefährlichere Routen ausweichen müssen. Somit sind sie aber auch immer mehr statt weniger auf die Hilfe von Schleppern angewiesen, um genau diese Routen zu finden und passieren zu können. Nur weil man Mauern baut und abschreckende Maßnahmen setzt, gehen ja die Fluchtursachen im Herkunftsland nicht einfach weg. Das ist jene Variable in der Gleichung, die gerne übersehen wird, aber nachgewiesenermaßen einen überproportional großen Effekt als „Migrationstreiber“ hat. Nicht zuletzt hat die Entwicklung der EU-Asylpolitik seit 2015 auch einen Signaleffekt in Richtung Schlepper wie auch potentielle Migranten: Aus ihr lässt sich unschwer ableiten, in welche Richtung der Trend geht. Tendenziell wird es immer schwieriger werden, Grenzen nach Europa „irregulär“ zu passieren. Das wiederum kann zu den bekannten „Jetzt oder nie“-Schüben führen.

Wer die Erkenntnisse internationaler Experten nur oberflächlich betrachtet, muss erkennen: Die Zahl der Flüchtlinge und die Gewalt gegen sie werden im Kommenden weiter steigen.

Der beschlossene "Asylkompromiss" ist ein Unpiq.

Nachtrag: Das zeigt sich auch in diesem Beitrag vom Mediendienst Integration.

Unpiq: Kein Ort. Nirgends – Warum der Asylkompromiss ein Irrweg ist

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Kommentare 5
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Das erscheint mir ein sehr realistischer Blick:

    "Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die EU-Einigung auf verschärfte Asylverfahren energisch verteidigt. Arbeitsmigration müsse legalisiert, aber irreguläre Migration eingedämmt werden, sagte der Grünenpolitiker in der Nacht zu Donnerstag in der ZDF-Sendung Markus Lanz. Auch wenn es noch keinen echten Verteilmechanismus gebe, sei der Kompromiss ein sehr guter Anfang.

    Angesprochen auf die Kritik, dass die Migranten an den EU-Außengrenzen wie in Gefängnissen leben sollen, entgegnete er: "Man kann so was natürlich immer mit solchen Verbalinjurien belegen." Es sei aber keine Haft, sagte Kretschmann. "Die Leute können ja zurück. Das ist doch keine Haft." Das Asylrecht sei der Vereinbarung zufolge weiter gewährleistet.

    Der Kompromiss sei der Beginn dessen, dass alle Verantwortung übernehmen müssten in Europa, sagte Kretschmann in der Sendung. Wenn Deutschland zum Schluss das einzige Land sei mit einer liberalen Flüchtlingspolitik, alle dorthin wollten und alle anderen zumachten, dann "platze" es irgendwann und funktioniere nicht mehr."

    https://www.zeit.de/po...

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Man braucht glaube ich keine internationalen Experten. Um zu erkennen, dass es keine guten Lösungen gibt. Und wenn überhaupt, dann liegen sie nicht in Europa. Das ist das Drama, man muß nicht nur Lösungen finden wollen, man muß es auch können.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      Ja, man muss es auch können. Allerdings wenn immer wieder die gleichen Leute immer wieder ähnliches versuchen und scheitern, muss ein neuer Ansatz her.

      Gerade sind die neuen, von der UN ermittelten Zahlen erschienen. Die Türkei ist das Land mit den meisten Flüchtlingen - weltweit. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass der "Deal" der EU mit Erdogan, der vielen Gesetzen widerspricht und deshalb kein Vertrag ist, platzt.

      Und nun wird versucht, einen ähnlichen "Deal" mit Tunesien zu versuchen.

      In dem von mir oben zusammengestellten Dossier kommen ja Experten aus verschiedenen Ländern und politischen Richtungen zu Wort, aber alle rechnen, dass der jetzige "Kompromiss" scheitert. Und deren Begründungen sind konkreter und damit realistischer als die von Kretschmann.

      Ähnliche Widersprüche gibt es auch in Amerika.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Aber es ist doch gar kein praktikabler Ansatz in Sicht. Ausser Grenzen schließen liegt alles andere nicht in der Hand europäischer Staaten. Auch wenn wir oft so tun, als ob wir die Ursachen vor Ort irgendwie beheben könnten. Was totale Selbstüberschätzung ist …… Also gerade hier versuchen doch die immer gleichen Leute die gleichen gescheiterten Ansätze. Irgendwann, nicht mehr lange, führt das zum Tod des Asylrechts. Das wäre dann schlimm.

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Im Dossier oben findet man schon einige andere Ansätze.

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