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Zeit und Geschichte

Mein lieber Ivan, viele Jahre werden vergangen sein ...

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
Zum Kurator'innen-Profil
Achim EngelbergDienstag, 27.02.2024

Es ist ein erschütterndes und erhellendes Stück, was Lucien Scherrer mit der Familiengeschichte der Margolius hier gelingt.

An Blaise Pascal berühmten Satz musste ich mehrfach denken als ich diesen Artikel las.

Niemals tut man so vollständig und so gut das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.

Die eher biedere bürgerliche Familie Margolis geriet in die Strudel und Untiefen eines Zeitalter der Extreme. Spätestens geschah es als die Westmächte Frankreich und Grossbritannien die Tschechoslowakei preisgaben: 

Im Glauben, einen Krieg verhindern zu können, erlauben sie Adolf Hitler 1938 die Annexion des deutschsprachigen Sudetenlandes und einige Monate später die Besetzung Böhmens und Mährens.

Viele der Margolinas starben im Holocaust.

Der Shoah-Überlebende Rudolf Margolis stieg im Glauben an eine neue Gesellschaft als kommunistischer Politiker auf; seine Genossen verhafteten, folterten und ermordeten ihn. Der Überlebende von Auschwitz und Dachau musste sich selbst nie begangener Verbrechen beschuldigen, um seine Familie zu retten. Bis heute kämpft sein Sohn Ivan um Wiedergutmachung.

«Mir geht es nicht um Bestrafung, sondern um die Wahrheit», sagt Ivan Margolius. Zum wenigen, was ihm von seinem Vater geblieben ist, gehört ein Abschiedsbrief vom 3. Dezember 1952. «Mein lieber Ivan», heisst es darin, «viele Jahre werden vergangen sein, bevor du diesen ersten und letzten Brief von mir bekommst. Jetzt wirst du erwachsen sein und das Leben und das Ende deines Vaters richtig verstehen. (. . .) du wirst dich nicht an mich erinnern, dein Geist wird alle Erinnerungen getilgt haben, wie wir zusammen gespielt haben, zu Hause und in der Natur, am Teich und im Schnee der Berge. Du erinnerst dich nicht, und das ist gut. Du kannst mein Leben beurteilen und nüchtern deine Schlüsse ziehen. Ich habe der Gesellschaft schwer geschadet und ich wurde dafür zu Recht verurteilt. (. . .) Die Welt ist schön, Ivan, und du hast die Chance, sie noch schöner zu machen, für dich und deine Mitmenschen.»

Die Eltern seines Vaters sind in Auschwitz umgekommen, seine Mutter Heda heiratet nach der Ermordung seines Vaters erneut und geht nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 in die USA und kehrt erst 1996 nach Prag zurück.

Ivan Margolius ist 1947 geboren worden und lebt in England. Seinen Vater hat er letztmals als Fünfjähriger gesehen, kurz bevor dieser von der Geheimpolizei verhaftet wurde. Zusammen mit seiner 2010 verstorbenen Mutter Heda hat er sein Leben lang für die Rehabilitierung seines Vaters gekämpft. Beide haben lesenswerte Bücher geschrieben, manche liegen in deutscher Übersetzung vor und beruhen auf amtlichen Dokumenten.

Aber wie wurde aus den Überlebenden der bürgerlichen Familie Margolis Kommunisten? Ja, Rudolf Margolis sogar Politiker?

All diese Erfahrungen machen Rudolf und Heda Margolius empfänglich für die Propaganda der Sowjetunion und der moskautreuen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC). «Unsere Konditionierung für die Revolution hatte bereits in den Konzentrationslagern begonnen», schreibt Heda Margolius 1986 in ihrem Bericht «Eine Jüdin in Prag». Man ist beeindruckt von der Disziplin, dem Idealismus und dem Mut der Kommunisten, die in den Lagern der Nazis eine Art Elite bilden. Hinzu kommt die Opferbereitschaft der Russen, die Hitlers Armeen unter Millionenverlusten zurück nach Mitteleuropa drängen und Anfang Mai 1945 Prag befreien.

Das Buch "Eine Jüdin in Prag : unter dem Schatten von Hitler und Stalin" von Heda Margolius Kovály ist nur noch antiquarisch erhältlich.

Der hier empfohlene Artikel mit seinen vielen Fotos zeigt die Gespenster des 20. Jahrhunderts, die in neuer Gestalt wiederkehren.

Die Spuren führen ins heutige Russland, wo im Namen von Antifaschismus und Entnazifizierung ein imperialer Angriffskrieg geführt wird. Die Verbrechen gestern wie die heute werden im Namen hoher Ideale ausgeführt. Der "antizionistische" Hass, der sich gestern gegen Rudolf Margolis und seine Mitangeklagten entlud, findet man heute bei vermeintlich propalästinensischen Veranstaltungen in New York bis Berlin.

Und noch ein Hinweis, weil ich nicht weiß, wie lange der Beitrag freigeschaltet ist. In vielen Bibliotheken wie dem Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins kann man mit einem gültigen Ausweis (unermäßigter Jahresbeitrag 10 €), solche Stücke als PDF herunterladen.


Mein lieber Ivan, viele Jahre werden vergangen sein ...

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Kommentare 3
  1. Nutzer gelöscht
    Nutzer gelöscht · vor 2 Monaten

    @retro bowl
    Toller Artikel

  2. Burkhard Geis
    Burkhard Geis · vor 10 Monaten

    Danke für diesen Beitrag und den Hinweis auf den "antizionistischen Hass" in der Gegenwart.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 10 Monaten

      Gern geschehen.

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