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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Ost-West-Passagen mit Michail Schischkin

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 03.04.2023

Der 1961 in Moskau geborene Michail Schischkin ist einer der auf- und anregenden Beobachter in Europa und ein großer Erzähler, der versucht, das klassische russische Romanerbe zu erneuern.

Seit 1995 lebt Michail Schischkin in der Schweiz und hat deren Staatsbürgerschaft und ist zugleich der einzige Autor, der die drei wichtigsten russischen Literaturpreise erhielt: 2000 bekam er den Russischen Booker-Preis, 2005 den Nationalen Bestseller-Preis sowie 2006 und 2011 den Bolschaja-Kniga-Preis (dt. Großer Buchpreis).

Mittlerweile werden Bücher von ihm aus Bibliotheken in seinem Geburtsland verbannt.

Er bleibt aber einer der wenigen, die Ost und West aus eigenen Anschauungen und Erfahrungen kennen und kann deshalb gut das Besondere und das Allgemeine unterscheiden.

Deshalb ist es spannend, wie einer, der die Diktatur und den großen Krieg kommen sah, seine Positionen wandelte.

Meine Vorschläge, ihn kennenzulernen, staffelte ich zeitlich. Es beginnt mit einer denkwürdigen Auseinandersetzung mit Dostojewski, seiner Rede zum 200. Geburtstag des großen Zerrissenen, der als Revolutionär zum Tode verurteilt war, zur Zwangsarbeit begnadigt wurde und als Reaktionär starb. 

Zu Beginn ein kurzes Quiz. Woher stammt das folgende Zitat?

«Russland braucht keine Predigt (davon hat es genug gehört), keine Gebete (auch davon gab es genug), sondern das Erwachen eines Gefühls der Menschenwürde, die viele Jahrhunderte durch den Dreck gezogen wurde, des Rechts und des Gesetzes, nicht wie die Kirche es vorschreibt, sondern gemäß dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und eine strenge Ausführung dieser Gesetze. Stattdessen bietet Russland den schrecklichen Anblick eines Landes, wo es nicht nur keinerlei Persönlichkeitsrechte gibt, keinerlei Garantien für Ehre und Eigentum, sondern nicht einmal eine polizeiliche Ordnung; es gibt nur einen riesigen Zusammenschluss von Dieben und Räubern.»

Angesichts des großen Kriegs im Osten erkannte Michail Schischkin die frappierende Aktualität Thomas Manns, der aus dem Exil mit dem Wort gegen die Nazis kämpfte. Er vergleicht mit Thomas Manns Reden und Briefen, Essays und Ansprachen den deutschen Faschismus mit der russischen Diktatur heute. Seine russische Deutschstunde auf den Schultern des in der Schweiz verstorbenen Nobelpreisträgers beginnt so:

«Das russische Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, weshalb sie ihm denn auch wirklich gewissermaßen zur Verwahrlosung gereicht, so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch ‹glücklicher› sein als unter der Republik. Die unbeschränkten Belügungs-, Betäubungs- und Verdummungsmittel des Regimes kommen hinzu. Das intellektuelle und moralische Niveau ist längst so tief gesunken, dass der zu der eigentlichen Empörung notwendige Schwung einfach nicht aufzubringen ist.»

In diesem Zitat aus dem Brief von Thomas Mann an René Schickele (2. April 1934) habe ich nur ein Wort ersetzt: «deutsch» durch «russisch». Die historischen Parallelen zwischen Nazi-Deutschland und Putin-Russland sind frappierend. Die jüngste russische Geschichte hat den deutschen Klassiker zu unserem Zeitgenossen gemacht.

Mit dem bekannten, im vergangenen Jahr verstorbenen Journalisten und Intendanten Fritz Pleitgen schrieb Michail Schischkin 2019 das Buch "Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung". Angesichts der extremen Ausweitung der Kriegszone überarbeitete und aktualisierte er seinen Part, der nun auf Englisch erschien.

In einem bitteren Interview mit Andrew Anthony vom Guardian sagt Michail Schischkin zur Mitschuld des Westens:

Ich fürchte, der Westen hat geholfen, dem russischen Volk dieses kriminelle Regime zu bringen. In den neunziger Jahren waren die Menschen bereit für die Demokratie, aber sie hatten keine Ahnung, wie sie funktioniert. Was haben die westlichen Demokratien der neuen russischen Demokratie gezeigt? Ich habe als Dolmetscher in der Schweiz gearbeitet, habe gesehen, wie diese riesige Waschmaschine funktioniert. Die Leute mit dem gestohlenen Geld, dem schmutzigen Geld, kamen aus Russland und eröffneten Konten in Zürich. Und Anwälte, Leute von den Banken, alle waren so glücklich, dieses schmutzige Geld zu bekommen. Sie waren sich absolut bewusst, dass es schmutziges Geld war. Dasselbe passierte in London, sogar noch schlimmer, glaube ich. Es ist natürlich die Hauptverantwortung der Russen, aber ohne die Unterstützung der westlichen Demokratien wäre es unmöglich gewesen, diese neue Diktatur in Russland zu errichten."

Last but not least: Ein Brief des bekannten russischen Autors an einen unbekannten Ukrainer.

Gestern & Heute: Ost-West-Passagen mit Michail Schischkin

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Kommentare 20
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Kritisch mahnende Stimmen wie die von Michail Schischkin verknüpfen aktuelle Entwicklungen mit der Literaturgeschichte ihres Heimatlandes und filtern Parallelen zu historischen Missständen sowie zum deutschen Faschismus heraus. Das sind vielleicht verzweifelte Versuche zur Rettung russischer Kultur, die von kompletter Zerstörung bedroht ist. Wie sich das auf die Arbeit von Kulturschaffenden auswirken kann, zeigt Valentina Nicolaes berührender Piq „Ich, Yura, kann jetzt nicht mit russischer Literatur arbeiten“ https://www.piqd.de/eu...

    Die Jahre der Perestroika erlebte ich unmittelbar in Moskau. Die sichtbarste, ebenfalls von Gorbatschow initiierte Glasnost (was vor allem Offenheit bedeutet) war auch der Beginn einer ehrlichen Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen. Sie wurde aber in Russland nie zu einem Ergebnis in den Köpfen der Massen geführt und schlug unter Putin in die Restauration der alten Zustände um.

    Jelzin erlebte ich einmal 1989, als er vor einem vollen Saal sprach. Seine Reformideen bezogen sich vornehmlich auf die Eindämmung der Parteibürokratie, ohne dass deutlich wurde, wodurch er sie ersetzen wolle. Was sich mir besonders einprägte, war die Schilderung seiner Wahlkampftaktik bei den ersten demokratischen Wahlen, die er als Parteisekretär der sibirischen Region Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) organisierte. Seine Cleverness und die seiner Berater sicherten ihm das Mandat im Wahlkreis Moskau. Er war machtbesessen, aber auch mutig, als er sich an die Spitze gegen die Putschisten im August 1991 setzte (am Tag des Putsches war ich auf Durchreise in Moskau und sah, wie an zentralen Plätzen die Panzer auffuhren und mit Trolleybussen und anderem Gerät Barrikaden errichtetet wurden).

    Seine Machtambitionen liefen darauf hinaus, in Opposition zu Gorbatschow die Sowjetunion nach dem Motto „Divide et impera“ zu zerstören. So war es leichter möglich, die Völker ihres Staatsvermögens zu berauben, das sie unter Entbehrungen erarbeitet haben. Hans Wibras unten geäußertes Urteil, der Westen hätte Jelzin in einer Weise über den Tisch gezogen, in der die Interessen der russischen Bevölkerung keine Rolle gespielt hätten, kann ich nicht nachvollziehen. Richtig ist allerdings, dass es dem Westen primär um eigene wirtschaftliche Vorteile ging.

    Nach der Krim-Annexion und dem Beginn des Donbass-Krieges habe ich mich gefragt, ob die NATO eine Mitschuld trifft, dass keine nachhaltige Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland geschaffen wurde. Doch sahen wir bereits unter Jelzin einen brutalen Tschetschenien-Krieg und separatistische Kriege in Georgien und Aserbaidschan. Russland hatte die ökonomische und militärische Macht, um die Kaukasuskriege mit weniger Blutvergießen zu beenden, Flucht und Vertreibung einzudämmen und die Souveränität und territoriale Integrität der Neuen Unabhängigen Staaten sicherzustellen. Die Interessenlage Russlands war das genaue Gegenteil, die Friedensgefahr aber erkennbar und die Kriege weit abseits von hier.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      Danke für die Anmerkungen und Erinnerungen.

      Heute sind - salopp gesagt - die Putschisten von 1991 an der Macht. Als junger Offizier war Surowikin (geb. 1966) zum Beispiel am Putsch beteiligt, sass kurz im Gefängnis, und stieg dann auf. Er war für Bombardierungen verantwortlich im zweiten Tschetschenienkrieg, in Syrien und jetzt in der Ukraine.

      Die russische Literatur und Kunst sehe ich nicht in Gefahr, allerdings werden einige Autoren anders gelesen werden. Die Risse gehen dabei auch durch die Klassiker, was ja Autoren wie Schischkin deutlich machen. Aber auch andere. Diejenigen, die die große russische Literatur tradieren, wie Ljudmila Ulizkaja oder Maxim Kantor sind ja entschiedene Gegner des jetzigen Regimes. Sie vertreten wie Thomas Mann gestern die deutsche, heute die russische Kultur.

      Die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch ist in der Ukraine geboren, ist eine belarussische Autorin, die ihre Bücher in Russisch schreibt. Momentan lebt sie im Exil in Berlin und schreibt - nach eigener Aussage - ein Buch über die Flucht und Migration aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

    2. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Ja, die russische klassische Literatur wird weiter zur Weltliteratur gehören, die wunderschöne klassische Musik wird uns erhalten bleiben, mit all dem ihr innewohnenden Imperialen. Auch wenn einiges neu gelesen und selbst Puschkin nicht vollkommen verschont wird.

      Meine Anmerkung bezog sich auf den Niedergang der Kultur, wie sie vom Volk im Alltag getragen wird und wie sie Thomas Mann mit dem allgemeinen „intellektuellen und moralischen Niveau“ in Nazideutschland charakterisierte. Neben den genannten russisch-belarussischen Autoren gibt es einige ukrainische, die auf den Werteverfall in Russland aufmerksam machen. Er ist als einer der Gründe für die äußerste Brutalität des Krieges zu sehen. Aus einem Essay von Juri Andruchowytsch, 40 Tage nach Kriegsbeginn, „Alles, was wir sehen, zeugt von Entmenschlichung“ hatte ich in der Diskussion hier zitiert: https://www.piqd.de/ze...

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Danke, eindrucksvolle Schilderung. Ich war 1989 und 1990 mit meinen Studenten auch etliche Wochen im Austausch mit der Uni dort in Leningrad/Petersburg. Aber diesen Satz „So war es leichter möglich, die Völker ihres Staatsvermögens zu berauben, das sie unter Entbehrungen erarbeitet haben.“ würde ich so nicht formulieren. Wenn ich heute so meine Skripte aus den Vorlesungen und den Diskussionen am Lehrstuhl für Ökonomie dort ansehe, dann ist unter Jelzin ziemlich genau das gemacht worden, was die Wissenschaftler vorgeschlagen haben. Mehr Selbstständigkeit der Republiken, Unabhängigkeit der Unternehmen (auch bei der Verteilung der Gewinne), etwa durch Aktiengesellschaften, Entmachtung und Abbau der zentralen Apparate, Kooperation mit der Wirtschaft im Westen und im RGW, man hat versucht Innovationen voranzubringen, etwa mit Kooperativen aus Wissenschaftlern. Man war sich bewußt, dass das Land in einer katastrophalen Lage, im Chaos war. Die. „Wirtschaft arbeitet nicht für die Menschen“, das Staatsvermögen der Völker war im Grunde nicht existent. Die Produktionsmittel hatten eine Erneuerungsrate von 1,5%, man hätte 11% gebraucht hab ich mir notiert. Man sprach von einer umfassenden Zersetzung des menschlichen Faktors. Und im Grunde gab es für die Perestroika kein praktikables Szenario.

      Wir waren auch in Tallin und Riga - die Menschen wollten nicht nur mehr Selbstständigkeit. Die wollten weg von der SU.

      Ja, man träumte auch von Mitbestimmung, Kontrolle der Gewinne und natürlich wieder von besserer Versorgung. Nur wer sollte das tun? Die verkrusteten korrupten Apparate? Die Massen haben ihre Aktien, damit ihre Mitsprache, für „eine Flasche Wodka“ verkauft. Und der Weg einer Modernisierung über die Oligarchen hat auch nicht funktioniert. Er ist spätestens gescheitert, als progressivere Unternehmer wie Chodorkowski ausgebootet wurden. Die Wirklichkeit läuft leider sehr selten nach den Vorstellungen der Wissenschaft. Das war die unmoralische „Brutalität der Situation“ um 1990 in der UdSSR. Es gab keine ordnende Kraft, all das mußte im Grunde spontan entstehen, war nicht steuerbar. Da kann man heute noch so sehr klugscheißen, was alles hätte gemacht werden sollen. ….. Trotzdem müssen wir weiter denken und forschen.

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Danke auch, unsere verschiedenen Erinnerungen fügen sich zusammen.

      Was die Wissenschaft betrifft, gab es viele Überlegungen. Auch praktisch: Kleinunternehmertum, Joint Ventures mit westlichen Firmen usw. Aber es fehlte ein tragbares Gesamtkonzept. Jelzin hatte sicher aufgrund seiner Erfahrungen im wirtschaftsstarken Oblast Swerdlowsk einen genaueren Einblick und bessere Verbindungen zur Industrie als Gorbatschow. Politische Reformen reichten nicht für einen Erfolg der Perestroika. Den Republiken mehr Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse einzuräumen, war richtig und auch Verhandlungsgegenstand für einen neuen Unionsvertrag. In den baltischen Republiken gab es besonders starke Separationsbestrebungen – eine ganze Generation war vor der Annexion in unabhängigen Staaten aufgewachsen. Jelzin und seinem Beraterstab muss aber auch klar gewesen sein, dass eine ungeordnete, plötzliche Spaltung des Riesenlandes mit seiner eng verflochtenen Wirtschaft zu Chaos führen muss. Ehemalige Partei- und KGB-Kader rissen einen Großteil der neuen ökonomischen Macht an sich. Bspw. Oligarch Deripaska in Sankt Petersburg, noch unter FSB-Chef Putin. Wie genau solche Seilschaften die Zerfallsprozesse (mit)auslösten oder beschleunigten, bedürfte einer tieferen wirtschaftshistorischen Analyse, mit der wir wohl nicht schnell rechnen dürfen.

      Und: Ex-Kommunisten wie Jelzin und Putin wurden streng gläubig. Dabei könnte die Religion einen großen Beitrag zum Zusammenhalt der Bevölkerung und der Völkerverständigung leisten. Die ZEIT schrieb 2009 noch „Orthodoxie in Russland: Kirche ohne Einfluss“ (https://www.zeit.de/on... ). Heute rechtfertigt sie den Krieg.

      Hier sind wir wieder bei Schischkins Essay und seiner Parabel:
      „Dostojewski kommt dahin, die römische Kirche vollständig zu verwerfen. Er betrachtet das Papsttum als die grösste destruktive Kraft des Westens, da Rom Christus um des Besitzes irdischer Macht willen verraten und Gott machtpolitisch missbraucht habe.“
      Schischkin zitiert weiter Myschkin: „Der Materialismus triumphiert, die blinde, gefrässige Begierde nach persönlicher materieller Versorgung, die Gier nach persönlichem Zusammenscharren des Geldes, und – der Zweck heiligt die Mittel – : all das wird als höchstes Ziel anerkannt, als das Vernünftige, als Freiheit, an Stelle der christlichen Idee der Rettung einzig durch engste ethische und brüderliche Vereinigung der Menschen.“

      Was tun, Rossija?

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Ich glaube ja inzwischen, das in solchen chaotischen Situationen "Gesamtkonzepte" nicht möglich sind. Es existieren keine Strukturen und Institutionen, keine Macht, die diese umsetzen könnten. Also selbst wenn es in den Köpfen übergreifende Konzepte gibt (und die gibt es immer), dann funktionieren sie nicht. Sicher kann man versuchen, eine bewaffnete Diktatur zu errichten wie in der Oktoberrevolution. Aber selbst dann kommt ja nicht das raus, was man (sich) versprochen hat. Die neuen Strukturen entstehen zwangsläufig weitgehend spontan in Versuch und Irrtum. Und natürlich spielen dann ehemalige Kader und Teilstrukturen (auch alte/neue Parteistrukturen) "Geburtshelfer". Nicht vergessen - korrupte, kriminelle Netzwerke (aus Banden, Schwarzmärkten und Geheimdiensten), die es schon in der SU gab. Wer denn auch sonst?

    6. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Dass ein tragbares Gesamtkonzept fehlte, war auf Gorbatschows marktwirtschaftliche Reformen gemünzt. Versuch und Irrtum und ein gesundes Maß an Spontaneität waren präsent, anders geht es auch nicht. Demokratie entsteht nicht von heute auf morgen, und auch der Übergang zur Marktwirtschaft kann nur schrittweise erfolgen, damit er schmerzarm verläuft. Ein abgestimmtes Konzept, mit den Unionsrepubliken und am besten auch im RGW (der noch nicht aufgelöst war; die osteuropäischen Mitgliedsländer hatten Interesse, ihre Marktpositionen für Exportgüter und Bezugsquellen für Rohstoffe zu behalten) wäre zur Vermeidung chaotischer Zustände nötig gewesen. Das war ein unglaublich schwieriger Prozess, die Ungeduld war immens. Politische Zugeständnisse in der Finanzhoheit usw. reichten nicht. Die Konsequenzen einer Auflösung der Sowjetunion wurden den Völkern nicht erklärt. Die Jelzinsche Opposition hintertrieb Gorbatschows letzte Rettungsbemühungen und war das andere Extrem zum ebenfalls gegen Gorbatschow gerichteten Augustputsch 1991 mit dem Ziel der Wiedererrichtung einer Diktatur.

      All das deutet auf eine extrem gefährliche Situation hin, wenn Putins Macht einmal zu Ende geht, so sehr wir uns das möglichst schnell wünschen. Einen zentralen Parteiapparat wie in China gibt es nicht mehr, aber viele Akteure mit immenser ökonomischer und militärischer Macht. Dass eine bedingungslose Kapitulation analog der des Hitlerregimes nicht realistisch ist, wurde auf Piqd an anderer Stelle besprochen.

    7. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Wer sollte denn der Bevölkerung das erklären? Die korrupte Elite? Die selbst in Machtkämpfe verstrickt war? Das gleiche gilt für die Abstimmungsprozesse innerhalb der Sowjetrepubliken oder zw. den zwangsverheirateten RGW-Mitgliedern. Das waren und sind doch Wunschvorstellungen. Der Übergang zur Marktwirtschaft konnte nur evolutionär geschehen, über Versuch und Irrtum, mit den Menschen, wie sie (geworden) sind. Und einige Versuche sind ziemlich schief gelaufen ….. Das läßt sich m.E. wohl kaum grundsätzlich vermeiden. Jedenfalls nicht mit wirklichen Menschen.

    8. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Das ist gerade der Punkt, dass die korrupte Elite überhaupt nichts erklären wollte und in Gemeinschaft mit Kriminellen, die das mit ihrer Hilfe geworden sind, nur an der Zerschlagung des Wirtschaftssystems und persönlicher Bereicherung interessiert waren. Anstelle mit Recht und Gesetz die Wirtschaft im Interesse der Menschen voranzubringen, war kein Verbrechen unmöglich. Dass Gorbatschow und seine Reformer (die keine Revolution wollten, sondern einen evolutionären Umbau) dies nicht verhindert haben, hat bei vielen Wut erzeugt. Dabei wird vergessen, dass es gerade Gorbatschow war, der sie von ideologischer Bevormundung und Untertanentum befreite – ganz abgesehen von seinen Verdiensten auf internationaler Ebene. Diese Veränderungen sind unumkehrbar, selbst in Nachfolgestaaten, aus denen keine echten Demokratien wurden.
      Menschen sind, wie sie sind. Und auch Politiker sind am Ende nur Menschen, deren Energie begrenzt ist. In Krisensituationen merken wir immer wieder, wie die Zeit sich nicht wendet, sondern einem einfach davonläuft ...

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Lutz Müller Mit das beste was ich über Gorbi&Co. gelesen habe ist übrigens: A. Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts

  2. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    ... Was nun die Verdienste für die friedliche deutsche Wiedervereinigung betrifft, so gebühren sie nicht Russland, sondern der Sowjetunion und namentlich Gorbatschow. Auch hat nicht Russland, sondern die Sowjetunion mit den Alliierten unsere Eltern und Großeltern von der Hitlerdiktatur befreit. Das wird oft - von manchen unbewusst, von anderen tendenziös – vergessen und verdreht. Die Ukraine und Belarus haben dafür im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl weit größere Opfer erbracht als Russland.

    Der moskauzentrierte Blick macht einige Deutsche dabei auf dem rechten Auge blind. Denn Putin annihiliert mit seinen Propagandisten die immensen Leiden der Ukrainer im Weltkrieg für seine schmutzigen imperialen Zwecke. Der Große Vaterländische Krieg wird so gegen den demokratischen Westen instrumentalisiert. Und selbst bei uns in Deutschland wird das Gedenken an die Weltkriegsopfer behindert, wie hier gezeigt wird: https://www.piqd.de/ze...

  3. Hans Wibra
    Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

    Zitat
    Mit dem bekannten, im vergangenen Jahr verstorbenen Journalisten und Intendanten Fritz Pleitgen schrieb Michail Schischkin 2019 das Buch "Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung".
    Das Buch hat mir gut gefallen und Pleitgen war einer, der uns, d.h. den Westen, auch ermahnt hat, die Nation Russland im positivem Sinne, d.h. auch ernsthaft in unsere
    europäische Gesellschaft ein zu laden. Bis zuletzt hat er dies Versäumnisse gesagt und genannt. Und ohne Zweifel hätte man die sich aufzeigenden Probleme ernst nehmen müssen, und die Frage der NATO-Osterweiterung versuchen müssen im Einverständnis mit Russland und dessen Sicherheitsinteressen, zum GeneralThema machen müssen. Wir verdanken Russland viel, denn es war das Russland mit seiner Regierung Gorbatschow, das uns diese reibungslose, zügige und lettzendlich bedingungslose Wiederverinigung gegeben hat. Was haben wir gemacht, einen weitgegehend hilflosen, meist alkolisierten Jelsin über den Tisch gezogen. In einer Weise, in dem die Interessen der Bevölkerung dieses Landes keine - wirklich keine Rolle gespielt haben. Die korrupten Neu-Milliardäre waren unsere großen Freunde, beispielhaft hier Michail Borissowitsch Chodorkowski, hat wie die anderen Milliarden unter den Nagel gerissen - als "jemand" diesem gigantischen Verbrechertum Einhalt gegeben hat, haben wir nicht besseres gewußt als ihn zum unseren Intimfreund zu machen und den "jemand" zum politischen Teufel. Und jetzt sind wir in der Situation die wir damals weder Kohl noch Brandt oder Mitterand, etc., jemals haben wollten.
    Wir steigern uns Behauptungen, die den Übergang zur Denunzation längst gegangen sind. Auch hier wird Russland mit Nazideutschland verglichen und irgendwie auch gleichgesetzt, so kommt es in den Medien und unseren Statements rüber, was für eine Tragödie. Wir verspielen aktuell, unsere seinerzeit, also nach dem 2. Weltkrieg und dem Einstz von Atombomben - auferlegte Menschheitsaufgabe = eine bessere Welt mit starken inernationalen Institutionen und mit Sicherheit, für jedes Land zu schaffen.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      Naja, in dem ich die Aussagen zeitlich staffele, zeige ich doch, wie sich Lage und Urteile darüber ändern.

      Nicht umsonst kommt der Beitrag in der losen Reihe "Gestern & Heute"

      Fritz Pleitgen letzte Aussagen sind ja auch anders als die im Buch von 2019. Sie ähneln doch sehr denen seines befreundeten russischen (!) Co-Autoren (!) Michail Schischkin, der wiederum noch später, im Thomas-Mann- Essay, schärfer urteilt. Und das auch begründet.

      Nicht "wir" steigern uns, sondern konkrete Stimmen in bestimmten Situationen verändern ihre Einschätzungen.

    2. Hans Wibra
      Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Wenn man ehrlich ist, so muss man sagen, dass das keine wirklichen Antworten auf meine Ausführungen sind. Nur ein Hinweis, wer das totalitäre aktuelle russische System mit dem Nazi/Hitler -System versucht in eine Kategorie zu bringen, verharmlost das Nazisystem und zwar in unverantwortlicher Weise. Wer sich weigert dem UN-Sicherheitsrat den Auftrag zu erteilen, die Sprengung von North Stream 2 zu untersuchen verspielt den eigenen RUF
      auf Integrität.

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Hans Wibra Michail Schischkin geht es um Kontinuitäten und Brüche in der russischen Geschichte. (Um die Sprengung der Gasleitung geht es nicht, es wäre ein anderes Thema.)
      Wo verharmlost Schischkin das Nazi-System und das noch in "unverantwortlicher Weise"?

    4. Hans Wibra
      Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Wo verharmlost .... war nicht die Frage, zu versuchen, das russische System mit dem Nazisystem in einem Topf zu werfen ist nicht akzeptabel - wenn man damit nicht aufhört wird die Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine abnehmen. Das geschieht ja jetzt auch schon - und das wollen Sie und ich doch auch nicht.

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Ich finde, was Schischkin in dem von A.E. verlinkten Artikel schreibt, das sagt doch alles:

      „Züchten Diktatoren und Diktaturen Sklavenpopulationen oder züchten Sklavenbevölkerungen Diktatoren? Die Ukraine konnte diesem höllischen Kreis entkommen, um unserer gemeinsamen, monströsen, blutigen Vergangenheit zu entkommen. Aus diesem Grund wird es von russischen Betrügern gehasst. Eine freie und demokratische Ukraine kann als Beispiel für die russische Bevölkerung dienen, weshalb es für Putin so wichtig ist, Sie zu zerstören.

      In Russland gab es weder eine Entstalinisierung noch die Nürnberger Prozesse gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Das Ergebnis sehen wir: eine neue Diktatur. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Diktatur nicht ohne Feinde existieren kann, was Krieg bedeutet.

      Die Pläne des Generalstabs beinhalteten die Weigerung der Nato, Sie mit ihren Streitkräften zu verteidigen, und die Nato erfüllte diesen Plan Putins in den ersten Tagen des Krieges. Sie Ukrainer haben Putins Plänen nicht zugestimmt. Sie haben sich nicht ergeben, Sie haben seine Panzer nicht mit Blumen begrüßt. Sie verteidigen nicht nur Ihre Freiheit und Menschenwürde; jetzt verteidigen Sie die Freiheit und die Menschenwürde der gesamten Menschheit. “

    6. Hans Wibra
      Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Zitat: Sie verteidigen nicht nur Ihre Freiheit und Menschenwürde; jetzt verteidigen Sie die Freiheit und die Menschenwürde der gesamten Menschheit. “
      Lesen Sie das noch einmal durch - genau das sind auch die Worte von größenwahnsinnigen Herrschen/Menschen.
      Wofür ich plädiere ist einfach wahr klar und prägnant zu argumentieren. Hitler hat mindestens 6 Mio. Juden ermorden lassen, seine Kriegsopfer und in anderen Ländern werden auf mindestens 40 MIO geschätzt, er hat keine Vereinbarungen für Weizenlieferungen mit seinen Gegner getroffen, er politischen Gegner im eigenem Land erlaubt eine eigene Organisation zu haben die Statements abgeben kann, ohne standrechtlich erschossen zu werden. Und der Weizen aus der Ukraine geht auch nicht wirklich an die armen Länder in Afrika, sondern.... Sicher alles das berechtigt niemand Krieg gegen die Ukraine zu führen, aber es sind Fakten.

    7. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Hans Wibra Hitler hat alle möglichen Abkommen geschlossen, wenn es ihm in den Kram gepasst hat. Sogar mit Stalin und dem Papst. Das System, dem Putin und die seinen entstammen, das kommt durchaus auf eine ähnliche Grössenordnung Opfer. Und ein Vergleich ist keine Gleichsetzung. Es gibt immer Unterschiede und Abstufungen. Natürlich ist Putin nicht gleich Hitler. Aber die Richtung stimmt. Übrigens vergleicht Schischkin nicht Putin mit Hitler. Sondern das moralische Niveau vieler Russen mitdem in D damals. Und natürlich ist „der Westen“ nicht völlig unschuldig.

      Worte werden von allen benutzt. Von Grössenwahnsinnigen auch. Allerdings, Schischkin ist nicht grössenwahnsinnig. Vielleicht etwas pathetisch ….

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Putin hat doch Chodorkowski nicht wegen dessen „Verbrechen“ gestoppt, mit recht fragwürdigen Methoden. Sondern weil der ihm widersprochen hat und liberalere, demokratischere Kräfte unterstützt hat. Auch als Warnung an die anderen Oligarchen wir das gedacht. Die sich nun willig von Putin steuern lassen und ihn finanzieren. Wer mitmacht lebt, wer nicht wird vernichtet. Aber das wurde ja bis vor einem Jahr vom Westen alles mehr oder weniger toleriert. Nix da von Teufel. Putin musste erst einen richtigen Krieg im EU-Vorgarten anfangen, damit einige mehr aufwachen. Ich wette, wenn er es geschafft hätte Kiev zu erobern, man hätte ihm das nach einiger Zeit auch verziehen. Nur um Ruhe zu haben.

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