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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Der Kampf um das Ende der "neoliberalen" Epoche

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 29.07.2024

Seit über einem halben Jahrhundert - seit dem Putsch in Chile 1973 - stürzen diktaturaffine "Neoliberale" immer mehr Länder ins Verderben. Ich setze "Neoliberal" in Anführungszeichen, weil es eine Selbstbezeichnung ist, die die Nähe zu Diktatoren verschleiert.

Dieter Plehwe, Wissenschaftler am WZB, analysiert für die Luxemburg-Stiftung die immer noch akute Gefahr am Beispiel Argentinien:

Die vermehrte Anwendung von physischer Gewalt und der anti-demokratische Umbau des Staatswesens unter Milei veranschaulichen die – wie einst in Pinochets Chile – enge Verbindung von Rechtsliberalismus, reaktionärem Konservatismus und autoritären Regimes.

Ebenso klar ist die Analyse im Artikel mit dem sprechenden Titel Auf dem Weg zum Marktfaschismus von Thomas Assheuer in der liberalen ZEIT. Er beginnt mit einem Paukenschlag:

Argentiniens Präsident Javier Milei will einen Kapitalismus ohne Demokratie. In dieser Revolution stecken überraschende Ähnlichkeiten zum Nazijuristen Carl Schmitt.

Und der Beitrag endet so:

Im Jahr 1980 wurde der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul A. Samuelson gebeten, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und sich die Ökonomie der Zukunft vorzustellen. Es sei nicht ausgeschlossen, vermutete Samuelson, dass die Wirtschaft eines Landes irgendwann einmal religiösen Fanatikern in die Hände falle - also Menschen, die nur noch an den freien, radikal ungebundenen Markt glaubten. Diesen Fanatikern gelänge es zwar, die Inflation auf null zu drücken, aber heraus käme eine Art "kapitalistischer Faschismus". Auf welchem Kontinent dieser "Marktfaschismus" ausprobiert werde? Samuelson war sich sicher: in Südamerika.

Es ist das Ergebnis des letzten Jahrzehnts, dass diese profunde wie fundamentale Kritik am "Marktfaschismus" immer breitete Kreise erreicht. Sie ist im Hauptstrom angekommen.

Als der Jahrhunderthistoriker Eric Hobsbawm (1917-2012) im Jahre 2009 die gravierenden Folgen des Marktextremismus der "Neoliberalen" u. a. im STERN analysierte, stieß er auf Skepsis, ja Ablehnung. Einige Zitate:

Dass ich Marxist geworden bin, liegt an meinen persönlichen Erfahrungen in den 30er Jahren, in der Großen Depression.

...

Mir, der ich die Große Depression miterlebt habe, fällt es immer noch unfassbar schwer zu verstehen, wieso die Ideologen der entfesselten Marktwirtschaft, deren Vorgänger schon einmal so eine fürchterliche Katastrophe, also Armut, Elend, Arbeitslosigkeit, letztendlich auch den Weltkrieg mitverursacht haben, in den späten Siebzigern, den 80er, 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder das Sagen haben konnten.

Warum? Wie erklären Sie sich das?

Der Mensch hat ein unglaublich kurzes Gedächtnis. Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen. Aber fast nichts wird aus der Geschichte gelernt. Das rächt sich nun. In den letzten 30, 40 Jahren wurde eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert.

...

Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns - ich kann das nicht ausschließen - auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge.

Damals war er einer der wenigen Stimmen, die aufgrund ihres Weltruhms noch in zentralen Medien zu Wort kamen. Sie waren Rufer in der Wüste.

Heute dagegen mehren sich die Stimmen, die das erkennen - auch jenseits des linken Lagers. 

Ein markantes Beispiel ist die Berliner Deklaration, die hier als neues Paradigma von Dani Rodrik, Laura Tyson und Thomas Fricke vorgestellt wird:

Zum neuen Konsens sollte in der Klimapolitik gehören, eine zumutbare Bepreisung von CO2 mit starken positiven Anreizen und ehrgeizigen Infrastrukturinvestitionen zu kombinieren. Auch sollten die Entwicklungsländer die finanziellen und technologischen Ressourcen erhalten, die sie für den Übergang zur Klimaneutralität benötigen. Bei alledem schwingt die Einsicht mit, dass es darum geht, ein neues Gleichgewicht zwischen Marktprozessen und gemeinschaftlich getragenen Maßnahmen zu schaffen.

Die Verfasser glauben, dass eine Einigung auf all diese Punkte vor fünf Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. 

Hier findet man die Berlin-Deklaration mit dem sprechenden Titel "Winning Back the People" im Wortlaut:

Die Märkte allein werden weder den Klimawandel aufhalten noch zu einer weniger ungleichen Verteilung des Wohlstands führen. Die Idee eines Trickle-Down hat versagt. Wir stehen nun vor der Wahl zwischen einer konfliktreichen protektionistischen Gegenreaktion und einer Reihe neuer Maßnahmen, die auf die Sorgen der Menschen eingehen. Es gibt zahlreiche bahnbrechende Forschungsergebnisse, wie eine neue Industriepolitik, gute Arbeitsplätze, eine bessere globale Governance und eine moderne Klimapolitik für alle gestaltet werden können. Jetzt kommt es darauf an, sie weiterzuentwickeln und in die Praxis umzusetzen. Was wir brauchen, ist ein neuer politischer Konsens, der sich mit den tieferen Ursachen des Misstrauens der Menschen auseinandersetzt, statt sich nur auf die Symptome zu fokussieren oder in die Falle jener Populisten zu tappen, die vorgeben, einfache Antworten zu haben.


Da die Gefahr bewaffneter Konflikte auf der ganzen Welt durch divergierende geopolitische Interessen zugenommen hat, müssen liberale Demokratien ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, sowohl ihre Werte zu verteidigen als auch direkte Feindseligkeiten zu entschärfen, um letztlich den Weg zu einem dauerhaften Frieden zu ebnen und die Spannungen zwischen den USA und China abzubauen.

Wer die Namen der erstaunlich breit gefächerten Unterzeichner liest, erkennt, dass nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Thomas Piketty unterschrieben haben, sondern auch Olivier Blanchard, Ex-Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, oder auch Daniela Schwarzer, Vorständin der Bertelsmann-Stiftung.

Noch sind die apokalyptischen Reiter des "Neoliberalismus", genauer: des Marktfaschismus, nicht aus dem Sattel geworfen, was ihr neuer Terror etwa in Südamerika zeigt.

Die Berliner Deklaration ist ein liberaler Reformversuch angesichts der Vielfachkrise. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Gestern & Heute: Der Kampf um das Ende der "neoliberalen" Epoche

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Kommentare 1
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 3 Monaten

    Ich weiß nicht, ob Milei wirklich einen Kapitalismus ohne Demokratie will. Auf jeden Fall will er wohl einen Staat ohne "dreistellige Inflationsraten, ohne aufgeblähten Beamtenapparat, ohne irrwitzige Überschuldung und ohne Schatten- und Vetternwirtschaft" - wie Assheuer schreibt. Etwas, was die argentinische Demokratie und ihr Sozialstaat (den Milei nun abschaffen will) offensichtlich nicht geschafft hat. Ehe man jetzt auf Milei einprügelt und von "Marktfaschismus" raunt, den ein verzweifeltes Volk demokratisch gewählt hat, sollte man vielleicht mal analysieren, warum der eher linke Populismus in Argentinien einen solchen monströsen Staat hervorgebracht hat.

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