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Technologie und Gesellschaft

Protokolle statt Plattformen – Mal wieder

Michael Seemann
Kulturwissenschaftler, Autor, Internettheoretiker
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Michael SeemannFreitag, 30.08.2019

Alle paar Jahre – ich schätze so alle drei – kommt ein Text in meine Timeline gespült, der empfiehlt, dass es jetzt doch mal Zeit wäre ein "wirklich dezentrales Internet" zu bauen, wo Menschen wie früher "die Kontrolle über ihre Daten" zurückbekämen und in dem es "wirkliche Redefreiheit" gäbe, statt die "Herrschaft der Konzerne". Die Revolution müsse über "Protokolle" und "offene Standards" funktionieren. "Das Internet", heißt es dann meist auch, sei immer schon "als dezentrales Medium" gedacht worden und nun müsse man eben zu der "ursprünglichen Vision" zurückfinden.

Es ist nicht so, als hätte ich nicht Sympathien mit solchen Forderungen. Ich bin mir sicher, dass ich den ersten Text dazu vor ca. 15 Jahren noch mit Jubelschreien begrüßte. Vielleicht auch noch den zweiten. Und auch beim dritten dachte ich bestimmt noch, "ja, das müsste man mal".

Irgendwann habe ich angefangen zu zweifeln. Wenn dezentrale, protokollbasierte Systeme so viel besser wären, müssten sie dann nicht irgendwann auch erfolgreich werden? Es ist ja nicht so, als gäbe es einen Mangel an Versuchen. Ich fing also an, mich mit den Gründen für das Scheitern entsprechender Ansätze zu beschäftigen und derer gibt es viele: von unzureichenden Netzwerkeffekten, strukturkonservativen Pfadabhängigkeiten, Innovationshemmnissen bis Governanceprobleme (eine komplette Analyse zu den Problemen habe ich mal für Technology Review aufgeschrieben (und auf Blockchain angewendet) und den Text kann man auf Englisch hier nachlesen.)

Neulich hatte ich wieder einen solchen Text in der Timeline. Doch dieser war anders, weniger naiv. Im Gegensatz zu den meisten Texten dieser Sorte ist er sich den meisten Problemen immerhin bewusst und adressiert sie direkt. Das ist ein großer Pluspunkt und hat mich ehrlich gefreut, denn ich hatte oft das Gefühl, dass sich die Debatte immer nur im Kreis dreht.

Natürlich habe ich auch bei diesem Text eine ganze Menge Einwände und finde die Adressierungen auch nur zum Teil überzeugend. Ein paar Beispiele:

1. Ein Social-Network-Protokoll, bei dem Moderation nur per Filtersouveränität funktioniert, hatte ich mir schon 2011 mal ausgedacht, aber zwischenzeitlich wieder verworfen, weil es mit naiven Annahmen darüber arbeitet, wie thematische Gruppenbildung funktioniert (siehe Digitaler Tribalismus). Meine Prognose: Es würde zu heftigen, kaum in Schach gehaltenen Tribe-Bildungen und Radikalisierungen kommen, die wir dann außerhalb des Internets auf unschöne Weise kennenlernen dürfen: siehe 8Chan, Incels und dergleichen. 

2. Auch die Idee, das Protokoll über eine Cryptocurrency zu finanzieren halte ich nicht für überzeugend. Im Artikel wird ein Zusammenhang von Netzwerkeffekten und dem Wert der Currency eines Netzwerks behauptet, den ich in der Realität nicht nachvollziehen kann. Cryptocurrencies sind bislang als reine Spekulationsobjekte aufgefallen, die mit ihrer heftigen Volatilität keine nachhaltige Finanzierungsgrundlage bieten könnten. 

Dennoch finde ich den Text lesenswert, denn auch wenn ich solchen Traktaten nach wie vor skeptisch gegenüberstehe, finde ich gelegentliche Gedankenspiele dazu – wenn sie etwas besser durchdacht sind – durchaus anregend. Aber bitte nur so alle drei Jahre.

Protokolle statt Plattformen – Mal wieder

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