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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Wer Charaktere wie Thomas Kuczynski nicht kennt …,

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDonnerstag, 24.08.2023

… der weiß zu wenig von der mit der Welt verwobenen Geschichte unseres Landes.

Wie tief die deutsch-deutschen Gräben noch sind, zeigt sich nach dem Krebstod von Thomas Kuczynski.

Nur kleine linke Zeitungen brachten bislang etwas: hier ein Nachruf von Karlen Vesper, hier einer von Georg Fülberth.

Die weit verzweigte jüdische Familiengeschichte der Kuczynskis erzählt nicht nur deutsche, sondern europäische und Weltgeschichte, weshalb über die mit ihm verwandte Ruth Werner (geborene Kuczynski) unlängst auch die deutsche Übersetzung von "Agent Sonja", der mehr Spannungsroman als Biografie ist, im Hause Suhrkamp erschien.

Hier eine Rezension des englischen Originals im Guardian; hier eine aus dem Deutschlandfunk Kultur.

(Hinweis: Ohne die Agentin Sonja hätte die Sowjetunion die Atombombe später gehabt.)

Zurück zu Thomas: Im Londoner Exil seiner Eltern geboren, wo noch heute Verwandte von ihm leben, wuchs er als Sohn des berühmtesten Ökonomen der DDR auf. Darüber erzählt er im hier ausgewählten Hauptstück aus dem Jahr 2018.

In seinem Nachruf bemerkt Georg Fülberth zur Abwicklung des Instituts für Wirtschaftsgeschichte:

Sein Vater hatte das Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet. Als es 1990/91 abgewickelt wurde, war Thomas ­Kuczynski sein letzter Direktor. 

Er erkannte, dass die Auflösung beschlossene Sache war, bevor die sogenannte Evaluation begonnen hatte, machte das öffentlich und löste damit internationalen Protest aus. 

Direktoren anderer Institute versuchten es teils mit wortlosem Trotz, teils mit Diplomatie, teils mit Unterwürfigkeit und erreichten ebensowenig wie er, der sich durch seine entschiedene Haltung Respekt verschaffte. Am Ende hat er nicht weniger Arbeitsplätze gerettet als sie, vielleicht sogar mehr. Die meisten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhielten teils prekäre, teils stabile Stellen anderwärts, er allerdings nicht. Fortan schlug er sich als wissenschaftlicher Freelancer durch...

Dass das einer der vielen Schäden und Verluste der Neuvereinigung war, die bis heute die neue deutsche Teilung zementieren, erkennt man sogar in den biografischen Datenbanken der Stiftung Aufarbeitung, wo es über Thomas heißt:

Wegbereiter der Cliometrie in der DDR; internat. anerkannte Pionierarbeit insb. mit der mathemat. Modellierung wirtschaftshistor. Prozesse (Analyse von Krisenphänomenen, lange Trends in der Wirtschaftsentw.).

Als das Regie-Kollektiv Rimini-Protokoll aus dem Marxschen Kapital einen Theaterabend destillierte, stand Thomas Kuczynski als Darsteller auf der Bühne.

Für das neu vereinte und neu geteilte Deutschland erwarb er sich Verdienste, weil er die große Schuld deutscher Unternehmer bei der Versklavung von Zwangsarbeitern während der Nazidiktatur nachwies. Einige seiner Erkenntnisse erschienen im Verbrecherverlag, der diesen Nachruf publizierte.

Dazu sei noch sein Freitag-Interview "Es gab nicht viele Schindlers" aus dem Jahr 1999 empfohlen, das so beginnt:

FREITAG: Die Stiftungsinitiative zur "Entschädigung der Zwangsarbeiter" ist mit dem Zusatz "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" versehen. Wie genau erinnert sich die deutsche Industrie, wie ernst ist es ihr mit Verantwortung, und wieviel tut sie für die Zukunft?


Thomas Kuczynski: Sie erinnert sich ungenau, sonst hätte Herr Lambsdorff meine Zahlen durchchecken lassen, bevor er sie anzweifelt. Zur Verantwortung hat der deutsche Botschafter in den USA einen mehrseitigen Brief an das Außenministerium geschickt, in dem er sagt, wenn die Bundesregierung, wenn die deutsche Industrie sich weiterhin so stockend in dieser Frage bewegten, wie zur Zeit, werde es auf dem amerikanischen Markt eng.

In dem in diesem piq zentralen Interview aus dem Marx-Jahr wird er gefragt, welche Schriften er zum Einstieg empfiehlt? Obwohl die maßgebliche Edition vom Band 1 des "Kapitals" aus seinem Hirn und Computer stammt (hier findet man einiges dazu), glaubt er, sie wäre nur für Fortgeschrittene.

Er rät, auch als ein Höhepunkt deutscher Prosa, zum "Kommunistischen Manifest".

"Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" bleibt für ihn ein Beispiel für herausragende Geschichtsschreibung.

Und da Marx nicht ohne Ökonomie geht, ist seine letzte Empfehlung: "Lohn, Preis und Profit".

Wie sehr die Linke im 20. Jahrhundert mit dem Aufstieg und Fall der Sowjetunion bis heute verbunden ist und nur eine Wiedergeburt im Geist des Antistalinismus und Antiputinismus möglich ist, zeigt auch der Lebensweg von Thomas Kuczynski.

Lernfähig sah er schließlich die ungeheure Schuld des Gewaltherrschers im Kreml und seiner Bande ein (im Gegensatz zu vielen "linken" Kleingeistern), aber Georg Fülberth weiß zu berichten:

Am 12. Februar 2022 reichte er bei Lunapark 21 einen Artikel ein, in dem er die Lügen und Provokationen auflistete, mit denen die USA immer wieder in der Vergangenheit einen Kriegskurs begleitet haben, und äußerte die Hoffnung, dass Russland in der Ukraine-Krise besonnen bleiben werde. Schon am 22. Februar 2022 bezeichnete er den Text als Totgeburt und ließ ihn von der Website der Zeitschrift nehmen. Zwei Tage später wurde vollends klar: Seine Hoffnung war vernünftig gewesen, ihr Scheitern eine Katastrophe. Er retirierte nicht zu geopolitischen Erwägungen. Verschlossen in persönlichen Dingen, britisch absolutely unsentimental, unsentimental und unpathetisch, hätte er nie sagen können, der Krieg habe ihm das Herz gebrochen. Aber er war nicht mehr der alte. Etwas in ihm war zu Ende.

Im Leben und Werk von Thomas Kuczynski und dessen Familiengeschichte erlebt man Höhen und Tiefen eines extremen Jahrhunderts, die weiter wirken – bis heute.

Gestern & Heute: Wer Charaktere wie Thomas Kuczynski nicht kennt …,

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Kommentare 3
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 10 Monaten

    Vom Tod dieses großen Wissenschaftlers erfuhr ich aus Deinem Piq. Thomas Kuczynski hat bewiesen, dass er Wirtschaftsgeschichte aus Daten lesen kann, selbst wenn diese in einer Diktatur immer kritisch hinterfragt werden müssen.
    Wahrscheinlich wäre die Aufarbeitung der DDR-Wirtschaftsgeschichte anders gelaufen, wäre nicht die Akademie der Wissenschaften auf so schäbige Weise abgewickelt worden.

    Auf einer Tagung, die der Rolle der Bevölkerungswissenschaft bei der Vorbereitung des Holocaust gewidmet war, hörte ich auch Th. Kuczynskis Vortrag über seine Studie zur Zwangsarbeit.

    Diese Zeilen zu schreiben, hat mich die wiederholte Ausstrahlung der dreiteiligen ZDF-Dokumentation „Hitlers Sklaven“ aus dem Jahr 2020 veranlasst. Darin kommt Th. Kuczynski mehrmals zu Wort, u. a. ab min 20 im Teil 1 und zur Frage der Entschädigungszahlungen ab min 25 im Teil 3.
    https://www.zdf.de/dok... (verfügbar bis 07.03.2026)

    Ausführlicher war sein Vortrag 2012 an der TU Berlin, hier als Audio: „Brosamen vom Herrentisch“: https://www.youtube.co...

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 10 Monaten

      Danke für Deinen Kommentar und die markanten Ergänzungen.

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Ein großer Verlust …..

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