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Ich bin Journalist und berichte über Kultur, Bildung und Ideen. Zum Beispiel über traurige Komiker, zärtliche Pornos und Ethikseminare für Frontex. Schreiben ist Denken. Und Staunen ist ein guter Anfang.
Als Redakteur arbeite ich für DIE ZEIT und ZEIT ONLINE im Hamburg-Ressort. Zuvor war ich Chefredakteur des Studierendenmagazins »Zeit Campus«. Ältere Texte von mir findet man auch auf »Spiegel Online«, in »Spex« und im »Missy Magazine«.
Studiert habe ich amerikanische Kultur, Medienkultur und Politik in Hamburg und Washington, DC, aktuell mache ich berufsbegleitend einen Master in Geschichte Europas in Hagen.
Menschen, die in Großstädten wohnen, sind blasiert. Diese These des Soziologen Georg Simmel ist bald 120 Jahre alt, wird aber immer noch gern zitiert (etwa hier im Feuilleton der ZEIT).
Wörtlich schrieb Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben:
Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien.
Laut Georg Simmel ist die Blasiertheit ein Selbstschutz, eine Eigenschaft, die »eigentlich schon jedes Kind der Großstadt im Vergleich mit Kindern ruhigerer und abwechslungsloserer Milieus zeigt«.
Übersetzt in unsere heutige Sprache kann man die These so zusammenfassen: Großstädter schotten sich ab gegen die Reize, die auf sie einprasseln. Diese Haltung schreibt sich in ihre Körper, in ihr Denken und in ihr Wahrnehmen ein. Sie sind einfach cooler als andere Menschen. Hier gibt es Simmels Aufsatz im Volltext.
Klingt ganz gut, oder? Ist aber Blödsinn. Oder: Schön gedacht, aber empirisch leider inzwischen widerlegt.
Über das Geistesleben der Großstädter wissen wir heute:
»Die Amygdala, eine zentrale Hirnregion, die an der Stressverarbeitung beteiligt ist, ist bei Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, nachweislich weniger aktiv als bei Stadtbewohnern.«
Großstädter sind also gestresster als andere Menschen. So steht es in der neuen Ausgabe der Zeitschrift der Max-Planck-Gesellschaft.
Unklar war bisher die Frage nach der Kausalität: Ziehen entspannte Menschen in die Großstadt und sind dort plötzlich gestresst? Oder zieht die Großstadt die ohnehin schon gestressten Leute an? Eine Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin hat versucht, das zu klären, indem sie 63 Testpersonen vor und nach einem einstündigen Spaziergang untersuchte.
Ergebnis: Jene, die eine Stunde lang im Wald spazierten, hatten danach eine weniger aktive Amygdala als andere, die eine Stunde lang in einer Berliner Einkaufsstraße unterwegs waren. Etwas ausführlicher und mit Links zu den entsprechenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt es das im gepiqden Text.
Wie viele Erkenntnisse wirkt auch diese im Nachhinein banal: Aber selbstverständlich ist ein Waldspaziergang entspannender als das Geschubse und Gerempel, der Lärm und der visuelle Spam in einer Shopping-Straße!
Jetzt haben wir es schwarz auf weiß. Und damit auch die Gewissheit, dass einer der klassischen Texte der Kultur- und Stadtsoziologie leider nicht mehr in Gänze haltbar ist. Mag sein, dass es in der Großstadt viele Menschen gibt, die nach außen blasiert und supercool wirken. Aber in ihnen drin rumort es – und ein Waldspaziergang täte ihnen sicher ganz gut.
Quelle: Max-Planck-Gesellschaft Bild: © Stefan Schweiho... www.mpg.de
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Das ist interessant, und ich möchte dazu noch ergänzen, dass drei Tage in der Natur noch viel besser wirken als ein einzelner Spaziergang. Diese Zahl ist nicht zufällig, das ist der sogenannte 3-Day-Effekt, hier nachzulesen, falls es interessiert :) https://www.nationalge...
Naja, das ist oberflächlich, so allgemein auch falsch. Man kann nicht die armen Viertel, die zuweilen Slums sind, mit den Reichenviertel gleichsetzen.
Da gerade der große Stadthistoriker Mike Davis gestorben ist, ein Repiq mit etlichen Nachrufen, der ein genaueres Bild von Großstadt gibt:
https://www.piqd.de/su...
Meine Empfehlung: Waldbaden zum Stressabbau auf www.quarks.de/gesundhe...
Und hier als Juwel zum real-time Relaxing ein Trailer (2 min): www.ardmediathek.de/vi...
Wer mehr über den Wald wissen möchte: www.ardmediathek.de/vi... (45 min). Die ganze Sendung fand ich nicht nur entspannend, sondern auch erkenntnisreich, erinnere mich noch an die Kommunikation zwischen den Bäumen via Wood Wide Web.
Die MPG-Studie untersucht am Ende ja nur die Wirkungen auf den Menschen. Hier ist bestimmt noch ein weites Feld, die konkreten Kommunikationsmechanismen Wald-Mensch zu ergründen...
Und wie ist es nach einer Stunde Biergarten? 😏
....und schon die Überschrift "Wie beeinflusst die Natur das Gehirn?" Da könnte ich schon ausflippen. Die Natur! Bitte, was soll das denn sein? Das Feld mit dem anmutig geschwungenen, sauber angelegten Weg wie auf dem Artikelbild? Oder das Gehirn, das beeinflusste? so vorgestrig
Das ist alles so furchtbar kurz gegriffen: Mit Blasiertheit meinte Simmel doch dieses "Ich hab schon Pferde kotzen sehen", statt naives (egal ob man das jetzt positiv oder negativ findet) Exaltiertsein über jede Neuigkeit oder Andersartigkeit. Also eine Umgangsweise mit Stress, der ja - wie Simmel selbst sagt - in der Stadt deutlich höher ist. Wie die ländlich aufgewachsene Amygdala im Frankfurter Bahnhofsviertel anschwillt, das möcht ich nicht wissen. - Aber das mal beiseite: am wenigsten Stress hat man im Grab. Und da muss man sich auch weniger mit den Problemen auseinander setzen, die die Welt so umtreiben, in der Nähe und der Ferne. Herzlichen Glückwunsch! - Oder: wenn ich auf dem Land Zank mit einem einzigen Nachbarn habe, kann das auch sehr stressig werden. - Und: ich liebe es, ab und an auf dem Land zu sein. Bemerke aber auch, dass ich im Innern kleiner werde insofern, als dass ich die Andersartigkeit von anderen-die-auch-da-sind weniger gut ertragen kann. Insofern kann man wieder einmal sagen, dass "wissenschaftliche" Erkenntnisse, wenn sie übersetzt werden in andere Zusammenhänge, auch Kontext brauchen und nicht so kurzschlüssig zum Großstadt-Bashing verwendet werden sollten.