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Literatur

VIELE FRAUEN IN EINER

Quelle: Goethe-Institut

VIELE FRAUEN IN EINER

SABINE SCHOLL
Autorin
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SABINE SCHOLLDonnerstag, 26.04.2018

Über Gefährtinnen berühmter Genies war lange Zeit in der Kunstgeschichtsschreibung wenig zu hören. Inzwischen wird deutlich, welch interessante Menschen hinter den Namen von Ehemännern steckten. So auch Ré Soupault, die 1901 als Erna Niemeyer in Pommern geborene Künstlerin. In kürzlich erschienenen Erinnerungen beschreibt sie ihren Werdegang von Kindheit an bis 1947; und es ist ein abenteuerliches Leben, bestimmt von häufigem Orts- und Berufswechsel, stets an den Hotspots der Avantgarde des 20. Jhdts. Nach einem Studium am Weimarer Bauhaus unter Johannes Itten arbeitet Ré in Berlin für den Filmemacher Viktor Eggeling, übernimmt Max Ernsts Studio, heiratet kurzzeitig Hans Richter, der ihrer Ansicht nach eher als leidenschaftlicher Aufschneider denn als seriöser Künstler Karriere macht. Sie zieht nach Paris, entwirft Mode für die berufstätige Frau, erfindet den Hosenrock, trifft den Autor Philippe Soupault, heiratet ihn, ergänzt seine Reportagen mit Fotografien, folgt ihm nach Algier, Tunis, New York, kümmert sich um Wohnungen, entwirft und baut Möbel für das gemeinsame Heim.
Als Philippe bei Ausbruch des 2. Weltkriegs in Tunis unter falschen Anschuldigungen festgenommen wird, hält Ré die Stellung, unterstützt ihren inhaftierten Mann, schlägt sich durch. Zu keinem Zeitpunkt erscheint sie als bloße Begleiterin eines Genies, auch wenn sie zuweilen die Rolle der Gattin spielt. Elogen an den Ehemann finden sich in ihren Schriften kaum, auch von geistiger Verbundenheit oder gegenseitiger Befeuerung der Kreativität ist nichts zu hören. Selbstbewusst und lebensklug überwindet Ré widrige Umstände, bildet sich ihre eigene Meinung, auch politisch. Als Philippe kurz vor dem Fall von Tunis freikommt, fliehen sie nach New York. Ihr Haus wird ausgeraubt und zerstört. Sie müssen neu anfangen. Zufällig findet eine Freundin 40 Jahre später auf dem Basar in Tunis eine Holzkiste mit allen Negativen des fotografischen Werks von Ré, das seitdem in Fotobänden und Ausstellungen gewürdigt wird. Dass ihre Schriften überhaupt publiziert werden, ist der persönlichen Bekanntschaft von Herausgeber und Wunderhorn-Verleger Manfred Metzner mit dem Ehepaar Soupault zu verdanken<
Rés Erinnerungen an die zahlreichen Lebensstationen hält die Künstlerin zeitweise nur in Bruchstücken fest, so viel hat sie zu erzählen. Mehrfach verweist sie auf Tagebücher, in denen Einzelheiten nachzulesen wären. Der Text ist aus Übertragungen und Zusammenfassungen täglicher Notizen geformt. Daraus entwickelt sich im Lauf der Lektüre das Porträt einer energischen Persönlichkeit mit beachtlichen Talenten und Überlebenskräften, nie in Opferpose, nie anklagend oder andere diffamierend, sondern stets anpackend und selbstverantwortlich.
Als die Ehe schließlich zerbricht, geht Philippe nach Paris, während Ré versucht in New York zu überleben. Sie erfährt große Armut, hungert, findet keine Bleibe, kommt bei Freunden unter. Mit schlecht bezahlten Schreibarbeiten verdient sie nicht genug und entscheidet sich wieder für Paris. Aber die Versorgung dort ist schlecht. Auch dass sie sich als ausgewanderte, mit einem Franzosen verheiratete Deutsche stets zwischen den Welten und Sprachen bewegt, macht Probleme. Doch wieder gelingt ihr eine Wendung ins Positive. Über Freunde gelangt Ré in die Schweiz und beginnt für die Züricher Büchergilde Gutenberg Romain Rolland zu übersetzen. Langsam konsolidiert sich ihr Leben und Ré kommt zu Ende ihrer Erinnerungen zum Schluss, dass Freiheit nicht die Ungebundenheit sei, die sie bisher gelebt hatte, sondern dass erst ein fester Wohnsitz und ein regelmäßiger Job wirkliche Freiheit garantierten. Die Aufzeichnungen enden mit dem Jahr 1947.
Ré Soupault wird das biblische Alter von 95 Jahren erreichen, nachdem sie noch einmal 20 Jahre mit Philippe zusammenkommt, selbst literarisch zu schreiben beginnt, französische Surrealisten übersetzt, Radio-Features erstellt, einen Film dreht, zahllose Märchenanthologien mit dem Ehemann herausgibt und und und und. Ein mit Tatkraft und Talent vollgepacktes Leben, eine moderne Frau, eindrucksvoll. Sie stirbt in Versailles.

Ré Soupault: Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt. Erinnerungen. Wunderhorn 2018

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