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Literatur

Versuch über die Freiheit der Lesernenni
oder die 
Subersive Kraft der Oberfläche

Versuch über die Freiheit der Lesernenni oder die Subersive Kraft der Oberfläche

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtSamstag, 13.06.2020

Cottens Waidner

Manchmal denke ich, es sei für mich vorbei mit dieser Art des Lesens, die mich in einen Text zog, in dem ich mich nicht wiederfinden konnte, es sei denn als einen stotternden staunenden verunsicherten Leser, dem alles, was er bis dato dachte, zwischen den Fingern zerronnen ist. Einen freien Leser also, oder zumindest einen, der so etwas wie Freiheit erahnt. Es gab das Feste nicht mehr, das, woran man sich, wenn es hart auf hart kommt, auch gegen besseres Wissen gehalten hat, oder halten konnte, was einem eine Identität verlieh. Dieser Weg zum Selbstbetrug war versperrt, ich musste mir Derartiges schon selber bauen, zusammensetzen aus Momenten, die mir nahe schienen, oder von denen ich wollte, dass sie mir nahe sind, um im Text zu navigieren. Aber letztlich war es eine Reise ins Jenseits des kartografierten Universums. Deshalb vielleicht die Nähe zur Science Fiction.

Heute trug B.I. Belahg ihren mit Fragezeichenübersäten Rollkragenpulli. Der grau und grün gestreifte Rollkragenpulli zeigte ein Heer identischer Köpfe im Linksprofi. Rote Fragezeichen bedeckten oder zerdrückten die linksgerichteten Köpfe wie Helme.

Gut, dieses Zitat bewegt sich noch in einem klassisch beschreibenden Modus. Aber es steht noch am Anfang, und wenn die Fragezeichen noch eine Analogie eröffnen, spielen sie sich in der Lektüre mehr und mehr in den Vordergrund. Begriffliches löst sich in Begriffskaskaden auf, Identitäten werden zu Indentitätenschwällen wie die Wasserschwälle in Wasserfällen, zu einem Überfluss, in dem man letztlich bis zu den Knien watet oder besser bis zum Hals.

Und natürlich beginnt der Text damit, dass ein Drehbuch entworfen wird, doch gleich die erste Figur löst sich von ihrer Rolle und ein pferdehufiger Wellensittich, von dem man nicht weiß, inwiefern ihn das teuflische Element zu recht auszeichnet, oder ob er nicht mehr ein Kanarienvogel ist, emanzipiert sich von seiner Rolle und schlägt der Protagonistin, die auch ein Protagonist ist, im Sturzflug einen Zahn aus, den sie oder er als Trophäe durch den Text trägt.

Überhaupt Zähne. Sie spielen eine Rolle, und ich war dafür sensibilisiert, weil ich kurz vor der Lektüre bei der Zahnärztin war. Und immer wieder finden sich im Text populärwissenschaftliche Einsprengsel, die vermeintliche oder wirkliche Naturwissenschaftliche Erkenntnisse referieren:

Odontogenese, Zahnentwicklung, ist komplex und von Spezies zu Spezies unterschiedlich. Von der Initiation bis zur Eruption zieht sich ein Komplex hin, der von GenexpressionProteinsignalen, Zellfunktionen und unbekannten Faktoren abhängt.

Und es waren doch immer die besseren, die begeisternden Bücher, die einem den Boden unter den Füßen wegzogen, und man befand sich in einer Schwebe, einer Schwerelosigkeit, verlor sich in einem Zustand des Lesens. Wenn ich dann wieder zu mir kam, also aus dem Text heraus in eine Welt, die eine gewisse Realität für sich in Anspruch nahm, blieb doch mein Bewusstsein und Selbstbewusstsein um einen Tick verschoben. Ich ging eine Zeitlang zumindest neben dem Pfad, zumindest so lang, bis sich ein neuer herausgebildet hatte, bis er herausgetreten war.

Isabel Waidner zelebriert in diesem ihren seinem Buch Geile Deko die Identitätsauflösungen und ich gebe zu, dass ich ihnen ohne die Übersetzung Ann Cottens nicht hätte soweit folgen können, wie ich meine das ich dies tat. Und das Geniale ist, ich bleibe in jeder Hinsicht verunsichert. 

Man müsste jetzt eigentlich noch von der Bedeutung der Bären schreiben oder anderer Tiere, die sich durch den Text ziehen, oder über die Übertragung deutscher Recyclingstrategien auf Tierkadaver als Geschäftsmodell, aber das würde zu weit in den Text selbst führen. Soviel vielleicht noch:

Sie hatte winzige Hufe. Sie sprang über den Teppich, grasend wie es schien. Alpaca-mixed-Faser war zum Großteil ungenießbar, aber die neongrüne Farbe war nährstoffreich, und konnte vom Organismus gut aufgenommen werden.

Das Duo Waidner/Cotten findet sich mit diesem Buch auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises 2020.

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Kommentare 21
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 4 Jahre

    ähem. Was bedeutet Lesernenni?

    1. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

      die Uebersetzerin Ann Cotten benutzt diese Form in ihren Texten, um das generische Maskulin zu umgehen. wikipediea: Die österreichische Schriftstellerin Ann Cotten verwendet experimentelle Formen gegenderter Sprache, die sie „polnisches Gendering“ nennt. Dabei kommen „alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende“

    2. Yvonne Franke
      Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt Spitze eigentlich. Aber warum polnisch?

    3. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke das weiß ich auch nicht. aber ich werde mich bei Gelegenheit erkundigen. Ann Cotten benutzt diese Form jedenfalls auch in ihren letzten Prosaveröffentlichungen.

    4. Christoph Weigel
      Christoph Weigel · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke https://www.robertwals...

      hier erklärt sie es auch nicht. oder etwa doch?

    5. Yvonne Franke
      Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre

      @Christoph Weigel Vielleicht wegen Georges Perec? Sie sagt, an ihm orientiert sie sich konzeptuell. Dessen Eltern waren Polen. Allerdings starb der 1982. Da wurde ja noch nicht sehr kreativ gegendert.

    6. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke das kann sein. aber bei gelegenheit frage ich nach.

    7. Yvonne Franke
      Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke Ach, na klar. Das Gute liegt so nah. Mit Mascha Jacobs hat sie drüber gesprochen: https://podcast.piqd.d...

    8. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke cool! danke!

    9. Christoph Weigel
      Christoph Weigel · vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke vielleicht stand auch ernst jandl pate? https://www.staff.uni-...

    10. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

      Ich habe Ann Cotten gefragt, und sie schickte mir zur erklärung einenLink:
      https://de.wikipedia.o...

    11. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt und die Erklärung, dass es wie Kochanie klingt.
      Kochanie ist polnisch und heißt soviel wie Liebling, Schatz etc.

    12. Yvonne Franke
      Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt Das gefällt mir! Danke, dass Du nachgefragt hast.

    13. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt ähm Lesernenni klingt wie Kochanie?

    14. Yvonne Franke
      Yvonne Franke · vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt Hui, da war ich vorher schlauer.

    15. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      @Yvonne Franke es trainiert doch ein wenig die Vorstellungskraft. :-)

    16. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 4 Jahre

      @Jan Kuhlbrodt nun das erklärt das "polnische" :-)

    17. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 4 Jahre

      Danke an alle folgenden :-)

  2. Andreas Schabert
    Andreas Schabert · vor mehr als 4 Jahre · bearbeitet vor mehr als 4 Jahre

    Las die Leseprobe aus dem Katalog des Literaturpreises. Scheint mir eines dieser Bücher zu sein, die als Meisterwerke gelten, aber kaum jemand kommt weiter als bis zu Seite 25 oder so, da unlesbar. Finnegans Wehg lest krysen.
    Ansonsten finde ich deine Besprechung super und macht große Lust auf dieses Buch!

    1. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

      von Finnigan unterscheidet es sich schon in der Länge. Ich hab es auf einen Rutsch durchgelesen. Klar, man bewegt dich auf schwankendem Boden, aber das macht riesigen Spass.

  3. Jan Kuhlbrodt
    Jan Kuhlbrodt · vor mehr als 4 Jahre

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