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Literatur

Unpick: Da die Wunde DDR nicht heilen will, hetzen einige

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 17.06.2024

Der angebliche Skandal: Kein Westdeutscher, kein ehemaliger östlicher Dissident erhielt den International Booker Prize, sondern Jenny Erpenbeck.

Ob in Paris oder Tel Aviv, ob in New York oder Shanghai: die in eine kommunistische Familie hineingeborene, in Ostberlin aufgewachsene Autorin ist eine wichtige literarische Stimme aus Deutschland. Als Einstieg empfehle ich HEIMSUCHUNG.

Nun hadern einige mit dieser Entscheidung und diffamieren die Botin, um ihre Erzählungen zu ignorieren. Nicht mit ihren Texten argumentiert man, sondern behauptet:

Im Kontext der Ostdeutschlanddebatte bedient sie damit jene nostalgischen und antifreiheitlichen Gefühle, jene blödsinnige Ostdeutschtümelei, die historisch haltlos, politisch irrelevant sind, aber im Grunde einer Sehnsucht nach einem Gestern Platz geben, das auch durch die damit verbundenen Gefühle weder besser noch humaner wird: Mauer bleibt Mauer.

Nicht wegen dem Autor wählte ich diesen Text als Unpick aus, sondern weil er frei zugänglich ist und beispielhaft für eindimensionale Stimmen der "Ostdeutschlanddebatte" ist.

Wer diese über die letzten Jahrzehnte verfolgt, erkennt, dass alten Meinungsführer langsam, aber beständig die Deutungshoheit entgleitet. Dennoch sind sie noch machtgestützt. Allesdings wird die neue unsichtbare Mauer immer deutlicher.

Das ist auch ein Befund des Soziologen Steffen Mau in seinem gerade erschienenen Buch UNGLEICH VEREINT mit dem bezeichnenden Untertitel WARUM DER OSTEN ANDERS BLEIBT.

Es geht also nicht mehr um Angleichung zwischen Ost und West.

Bereits 1991 war sich der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Hans Mayer (1907-2001) in seinem Buch DER TURM VON BABEL sicher:

"Die DDR ist eine deutsche Wunde, die noch lange nicht heilen wird."

Im von Cornelia Geißler geführten Interview aus dem Jahr 1995 heißt es dazu:

Der Einigungsvertrag hat ganz tiefe Wunden gerissen, die unnötig waren. Und zweitens bin ich der Meinung, daß das, was ich in meinem Buch "Turm von Babel" geschrieben habe, was damals fürchterlich im Westen angegriffen wurde, einfach a matter of fact geworden ist, wenn ich schrieb:

"Die DDR ist eine deutsche Wunde, die noch lange nicht heilen wird." 

Heute sagt das jeder, damals war das ganz schlimm, was ich gesagt habe, und ich bin fast krank geworden, physisch schwer krank, an den Angriffen, die ich damals mit meinem Buch erleben mußte. Was nicht verhindert hatte, daß dieses Buch heute in italienischer, französischer und japanischer Übersetzung vorliegt. Man sollte also da wieder recht behalten. Und so meine ich, die Kultur der DDR besteht weiter.

Das es jeder sagt, wie Hans Mayer behauptet, stimmt leider nicht wie dieser eindimensionale Unpick-Text zeigt.

Bei Hans Mayer war der Vorwurf der "Ostdeutschtümelei" besonders falsch, da dieser 1963 die DDR verlassen hatte.

Heute wird zunehmend und offen widersprochen. So beruft sich Clemens Meyer in seinem aktuellen Buch CHRISTA WOLF ausdrücklich auf Mayers DER TURM VON BABEL.

Ein weiteres Beispiel findet man im Gespräch mit der Filmemacherin Grit Lemke

Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen Kolonialismus in Afrika und dem, was hier im Osten passiert ist ... Die strukturelle Ungleichheit innerhalb eines Staates wie bei uns nennt man in der Wissenschaft internen Kolonialismus.


Interner Kolonialismus?

Ja, darüber gibt es Bücher, und ich habe mich ein bisschen damit beschäftigt, weil es mich wirklich interessiert. Wie Irland, Schottland und Wales von England behandelt wurden zum Beispiel – und das ja auch, ohne dass jemand abgeschlachtet wurde. Kolonialismus sagt etwas über ein asymmetrisches Verhältnis aus, darüber, wie die eine Seite mit der anderen umgeht. Die Annahme der Überlegenheit einer Seite, weil ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Herkunft als wertvoller angesehen wird. Das ist genau das, was hier im Osten auch passiert ist.

Jetzt kann man argumentieren, der für diesen Unpick ausgewählte Autor Ilko-Sascha Kowalczuk wuchs auch in der DDR auf. Allerdings stieg er im Windschatten der versuchten geistigen Abwicklung der DDR auf.

Mauer bleibt Mauer, so tönt er in seinem Text.

Allerdings gerät dadurch aus dem Blick die vertane Möglichkeit DDR und das Verdrängte des Einigungsprozesses.

Bei Jenny Erpenbeck, aber auch anderen ostdeutschen Autoren wie Clemens Meyer  kommt hinzu: ihr Stoff und ihre Position erlaubt es ihnen, bei geschichtlichen Stoffen, das gesamte 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, dessen Nachwirken im 21. Jahrhundert markant zu Tage tritt.

Einem westdeutschen Autor jenseits der im Osten geborenen, verstorbenen Generation Günter Grass oder Siegfried Lenz ist das aus eigener Erfahrung nicht möglich.

Unpick: Da die Wunde DDR nicht heilen will, hetzen einige

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Kommentare 10
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

    Na ja, so eindimensional sind die "Stimmen der "Ostdeutschlanddebatte" …" ja nicht. Immerhin steht mindestens eine Stimme (die ja so allein nicht ist), die den Booker Price gewonnen hat gegen eine andere, die man auch oft und mit anderen in vielen Medien lesen kann. Und beide Seiten haben durchaus mächtige Gruppen hinter sich. Es ist also ein durchaus demokratischer Streit. Und natürlich bleibt Ostdeutschland anders, wie Bayern etc. auch.

    Und wer soll denn "die Möglichkeit DDR" vertan haben, wenn nicht wir Ostdeutschen großteils selbst? Im Westen hätte die CDU wohl nicht noch mal so eine Mehrheit bekommen. Ich sehe eher, dass viele Ostdeutsche ihre eigene Vergangenheit verdrängen. 1990 wurde mir oft Prügel angedroht, wenn ich gesagt hab, die schnelle Einführung der DM wird uns alle mindestens einmal arbeitslos machen. Heute gibt es schimpfe für die Bemerkung, Putin ist kein Partner für den Frieden und die Zukunft. Was soll man einem solchen Volk raten??

    Ich finde, Kowalczuk hat recht …..

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten

      Nein, hat er nicht, weil er die Literatur nicht kennt.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Selbst wenn er die Literatur nicht kennen sollte (wofür ich noch keine Belege sehe?), das was er sagt gilt weitgehend unabhängig davon genauso ……

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten

      @Thomas Wahl "Selbst der Auflösung des verhassten DDR-Rundfunks wird hier nachgejammert, als ginge mehr als ein Propagandaapparat verloren", behauptet der Schreiber, um nur ein Beispiel einer Falschaussage zu geben.

      Es geht hier um die Figurenrede einer sehr jungen Frau, die Hoffnungen auf Reformen hat.

      Außerdem war der DDR-Rundfunk 1990, im kurzen Sommer der Anarchie, lebendig. Aber, wenn man das ignoriert, kann man nicht diskutieren.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Was Du als Falschaussage titulierst ist erst mal eine Meinung. Der kann man folgen oder nicht. Der DDR-Rundfunk wurde wohl 1990 als Propagandaapparat recht lebendig. Nur die DDR war tot. Und wenn ich mich recht erinnere wollte ein Großteil des Volkes zu der Zeit auch keine Vertreter der DDR-Eliten mehr sehen oder hören. Die runden Tische auch nicht unbedingt. Die Wahlergebnisse waren eigentlich ziemlich deutlich. Für die Betroffenen sehr unschön. Ich selbst fand das tragisch, auch persönlich. Mein Job war weg, meine Netzwerke wertlos. Aber das jetzt alles dem "Westen" in die Schuhe zu schieben - auch so ein Fall von. "die Anderen sind schuld" …..

  2. Dirk Liesemer
    Dirk Liesemer · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

    Na, da hast Du ja mal ordentlich gebrüllt ;-) Ich finde Kowalczuks Text gar nicht eindimensional, sondern pointiert.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten

      Alle Bücher von Jenny Erpenbeck las ich auch nicht, aber Kowalczuk hat wohl kaum eins gelesen oder nicht verstanden. Seine Interpretation ist unwahr wie auch die vieler anderer Kritiker. Heute war im Perlentaucher dieser Artikel verlinkt, der in die gleiche Richtung geht:
      https://www.freitag.de...

    2. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Ich habe "Aller Tage Abend" gelesen und fand das Buch ganz toll. Über "Kairos" habe ich sehr unterschiedliche Dinge aus meinem Freundeskreis gehört: von "super" bis "ostalgisch".

    3. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

      @Dirk Liesemer Zur Kritik von "Kairos" fand ich einen Post von Gustav Seibt erhellend, der vom Roman ausgeht und keine Etiketten wie "ostalgisch" dranklebt.

      "Ich gönne Jenny Erpenbeck den International Booker Prize von Herzen (sofern sie ihn heute Abend erhält), glaube aber doch, dass ihr jüngster Roman "Kairos" einen beachtlichen Konstruktionsfehler hat.
      Die Erzählung von einer toxischen Beziehung (älterer Kulturfunktionär, ganz junge Frau) arbeitet zunächst mit zwei Perspektiven, der der Frau und der des Mannes - jeweils im Wechsel von gegengeschnittener Erlebter Rede.
      Aber je mehr der Mann seine monströsen Seiten enthüllt und ausagiert, umso mehr verschwindet seine (Innen)Sicht und es bleibt nur die der Frau zurück - psychologisch plausibel zwar, weil der Mann immer furchterregender, unberechenbarer, manipulativer, grausamer, ja rätselhafter wird.
      Aber die damit entstehende Asymmetrie bleibt auf der Ebene des Discours (der Erzähloberfläche im Gegensatz zum Récit, dem Erzählinhalt) unlogisch - warum auf einmal nur noch eine Seite, da es doch mit zweien begonnen hatte? Hat der Mann auf einmal kein Innenleben mehr? Er wird zur Blackbox. In einem folgerichtig konstruierten Roman hätte er das von Anfang an sein können, bzw. müssen. So aber verliert er an Plausibilität, er wird zum Popanz.
      Je länger desto mehr fragt man sich, warum die Frau sich diese Psychospielchen überhaupt gefallen lässt, von jemandem, der für Innensicht, Einfühlung gar nicht mehr zugänglich wirkt.
      Und je länger desto mehr verliert die Geschichte dann auch an Interesse - jedenfalls ging es mir so. Die Details der Quälereien wiederholen sich, werden langweilig. Abstoßend sind sie ohnehin.

      Am interessantesten fand ich an dem Buch die kulturelle Innensicht in die kultivierten, gebildeten Trägerschichten der DDR. Feinsinn & Selbstbetrug, Privilegien & scheinhafter moralischer Anspruch, der Hochmut einer Elite gegen die materialistischen Massen, bei gleichzeitigem Luxus-Konsum nach dem westlichem Modell der feinen Unterschiede (das "Ersatzgräflich-Weinkennerische" - Max Goldt - also auch im Sozialismus, die Musik-Liebe, das Kunstverständnis, die Affinität zur Lyrik).
      Hier kennt sich Erpenbeck offensichtlich aus, dass sie aus dem sozialistischen Adel stammt, hat ihr eine Beobachtungschance eröffnet, die sie beherzt nutzt.
      Und den Moment des Zusammenbruchs dieser Welt hat sie dann doch ganz famos geschildert, in brillanter, unterkühlter Innensicht.
      So als Westbourgeois fand ich das sehr aufschlussreich."

    4. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 6 Monaten · bearbeitet vor 6 Monaten

      @Achim Engelberg Danke für den Hinweis auf Seibt. Lustig, dass er die Psychologie der Frau plausibel fand. Eine befreundete Psychiaterin, die das Buch gelesen hat, fand genau das nun gerade wieder nicht, jedenfalls ab einem gewissen Punkt nicht mehr.

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