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Literatur

Über die Möglichkeit

Über die Möglichkeit

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtFreitag, 23.07.2021

Es besteht die Hoffnung, dass wir die Zeit neoliberaler Theoriebildung und vor allem neoliberaler Politik hinter uns gelassen haben. Zumindest scheint es so, dass die Frag- und Antwortlosigkeit, die damit einherging und das grenzenlose Vertrauen in die Regulierungsfähigkeit der Kräfte eines deregulierten Marktes angesichts wachsender ökologischer und sozialer Menschheitsprobleme ein Ende findet.

Das setzt ein erneutes Interesse an kritischer Gesellschaftstheorie frei, die in ihrer Nichteinheitlichkeit Stoff zu gründlichen Diskussionen und verschiedenen Lösungsansätzen bietet. Einerseits finden wir zum Beispiel eine Reformulierung des Liberalismus unter zentraler Beachtung sozialer Momente im Rückgriff auf die Theoretikerin Judith Shklar, deren Rezeption endlich aus dem Schatten ihres Kollegen John Rawls genommen würde. Andererseits formulieren zum Beispiel Daniel Falb und Armen Avanessian theoretische Positionen im Rückgriff auf Kant um sie für die gegenwärtige Lage fruchtbar zu machen. Sie entwickeln dabei einen nicht idealistischen zeitgemäßen Begriff der Metaphysik, der sich gerade auf die Verantwortung hinsichtlich eines dem Einzelnen nicht unmittelbar Wahrnehmbares richtet, das dennoch Folge seiner Handlung ist.

Aber auch die klassische kritische Theorie der Frankfurter Schule erweckt zu neuem Leben. So legte Christoph Menke mit „Kritik der Rechte“ ein Buch vor, das versucht, die Rechtsphilosophie in Anknüpfung an Hegel hinsichtlich postbürgerlicher Ordnungen neu zu formulieren.

All das sind Versuche die sich selbst zur Disposition stellen und damit ein klassisches Denken entstauben, sozusagen aus der Garage holen wollen.

Seit einiger Zeit bin ich immer einmal wieder mit einem Buch befasst, das den Begriff der Möglichkeit als eine zentrale Kategorie philosophische Kategorie zu begründen. Das Buch ist von Gösta Gantner und heißt „Möglichkeit. Über einen Grundbegriff der praktischen Philosophie und kritischen Gesellschaftstheorie“. Erschienen in der Edition Moderne Postmoderne im Verlag [transkript] ist der Text im Umkreis der aktuellen Frankfurter Schule entstanden, und er ist auch als ein Bestandteil der Reformulierung kritischer Gesellschaftstheorie zu betrachten.

Es ist eine philosophische Arbeit, die von Axel Honneth betreut wurde, der von 2001 bis 2018 Direktor des Frankfurter Institutes für Sozialforschung war.

Im Vorwort weist Gantner auf die politische Dimension seines Projektes hin, vor allem in Abgrenzung zum Denken der AfD, das den Begriff der Möglichkeit sowohl philosophiehistorisch als auch systematisch beleuchtet.

„Vereinfacht lässt sich die Geschichte des Begriffes der Möglichkeit wie folgt skizzieren: War ein realer Begriff der Möglichkeit in der Antike dazu da, Seiendes in seiner Unabgeschlossenheit und Bewegtheit zu erfassen, entfaltet er sich in der Neuzeit als ein Begriff der Differenz. Er wird so als ein kritischer, gegen das übermächtige Konzept der Wirklichkeit gerichteter Terminus im 19. und 20. Jahrhundert konzipiert.“

Das was Gantner in diesem Satz anklingen lässt, holt er im Verlaufe des Buches auch ein. Besonders spannend und lehrreich waren für mich die Kapitel, die sich um den Modernebruch herum mit Konstellationen befassten, die auf das Denken Spinozas zurückgingen. Also Situation, irgendwo im Bereich der Determination ein Moment der Möglichkeit und mithin Freiheit anzusiedeln. Spannend in diesem Zusammenhang ist die Darstellung von Spinozas Machtkonzeption, der die Foucaultsche sehr Nahe kommt, also Macht nicht als eingleisiges Verhältnis zu Ohnmacht aufzufassen, sondern sozusagen als Machtgeflecht.

Gösta Gantner springt an dieser Stelle unter Auslassung Kants, der ja dieses Dilemma auch zu lösen versuchte indem er das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit antinomisch bestimmte, direkt zu Hegel. Und über Hegel dann eben zu Marx.

Auf Kant kommt er allerdings notwendiger Weise im 2. Teil zurück, in dem die Möglichkeit als Grundbegriff kritischer Gesellschaftstheorie beleuchtet wird.

Es ist mir nicht möglich, dieses Buch (wie jedes andere übriges) abschließend zu beurteilen, aber ich kann sagen, dass ich dafür bin, dass es mein Denken in Bewegung setzt. Und ein bewegtes Denken kommt zwar nicht ohne Urteil aus, aber es wird dies immer als ein momentanes auffassen. 

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