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Literatur

Nach Swanetien reisen

Nach Swanetien reisen

Annett Gröschner
Schriftstellerin und Journalistin
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Annett GröschnerFreitag, 31.03.2017

Den vergangenen Sommer habe ich in Swanetien verbracht. Ich wollte dorthin, seit ich das Wort zum ersten Mal gehört hatte. Es stand im Titel eines Buches von Benno Pludra: "Wie ich nach Swanetien reisen wollte". Ich mochte seine Bücher als Kind. Als ich mir das kleine Bändchen dreißig Jahre später noch einmal besorgte, stellte sich heraus, dass Pludra zwar in Georgien, nie aber in Swanetien gewesen war. Die Organisatoren seiner Reise fanden eine Menge Ausreden, bis er von seinem Reisewunsch abließ. Swanetien war lange für Ausländer gesperrt, nur wenige Fremde schafften es bis ganz nach oben, einer von ihnen war der Fotograf Wolfgang Korall. Er hat vor einigen Jahren den Bild-Text-Band "Swanetien. Abschied von der Zeit" veröffentlicht, der leider vergriffen ist. Es das schönste und tiefgründigste Buch in deutscher Sprache über Swanetien. Es gibt allerdings auch nicht so viele.

Swanetien teilt sich noch einmal in Ober- und Unterswanetien. 2200 Meter über dem Meeresspiegel liegt die oberswanetische Gemeinde Ushguli, am Ufer der Ingurischlucht, höher wohnt ganzjährig niemand in Europa, Einsiedler ausgenommen. Den Swanen ging lange der Ruf der Unbezwingbarkeit voraus. Zahlreiche fremde Heerscharen eroberten Georgien und verloren es wieder, Swanetien blieb unberührt, zu beschwerlich war der Weg in die Berge, selbst Gott war es lange Zeit zu mühsam, die heidnischen Swanen zu bekehren, sie einigten sich dann auf eine Art Heidenchristentum. Sie beten zu Gott und allen Göttern. Der Flusslauf des Inguri wurde während der Bronzezeit besiedelt, nachdem dort Edelmetalle entdeckt worden waren. Wir kennen das von Jason, der den Fluss heraufkam, um Medeas Volk das Goldene Vlies zu entwenden – die Edelmetallteilchen wurden mit Hilfe von Tierfellen aus dem Wasser geborgen.

Ushguli ist bekannt für seine mittelalterlichen Wehrtürme, die zum UNESCO-Welterbe gehören. Die Turmkronen haben vorspringende Schießscharten, Maschkuli, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Die Türme dienten nicht nur dem Schutz vor äußeren Feinden, sondern auch dem vor der Blutrache bei Sippenfehden, die es noch bis ins 20. Jahrhundert gab.

Als eine der letzten Regionen Georgiens kam Swanetien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter russische Verwaltung. Die ersten Bolschewiken sollen sich in den Zwanzigerjahren monatelang in Ushguli in einem Wehrturm verbarrikadiert haben, ehe sie durchsetzten, dass eine bis heute elende Schotterpiste von Mestia nach Ushguli aus dem Fels gesprengt wurde, die die junge Sowjetmacht mit dem höchsten Ort Europas verband. Es folgten Elektrifizierung und der Bau einer Schule. Die Moderne hat hier bis heute nichts zu lachen, vor allem nicht in den Wintermonaten, aber das Mobilnetz ist stabiler als in Mecklenburg-Vorpommern oder zwischen Berlin-Wannsee und Potsdam-Griebnitzsee.

Für die 40 Kilometer von Mestia nach Usghuli braucht der Jeep heute immer noch vier Stunden. Wir hängen öfters zwischen Himmel und Erde. Es hat keinen Zweck sich anzuschnallen, wenn das Fahrzeug in die Schlucht fiele, wäre eh alles egal. Wir fahren Richtung Himmel und zugleich Jahrhunderte zurück. Im Dorf gibt es keine Straßen, dafür liegen Schlitten an jedem Haus bereit, die auch ohne Schnee funktionieren. Lange kannten die Swanen das Rad nicht. Am Rand des Dorfes steht eine Straßenwalze, die aus der NÖP-Zeit zu sein scheint, aber immer noch funktioniert. Es gibt wunderschön wettergegerbte Frauen, alte Bolschewiken, junge Bergsteiger, Abenteurerinnen und keine Kinder. Die Landschaft ist atemberaubend und nicht, weil die Luft hier schon dünn ist. Die alten Frauen verkaufen uns für wenig Geld swanisches Salz. Für die Herstellung werden in den Bergen wild wachsende Kräuter und Gewürze, Knoblauch, Koriander, Dill, Paprika, Kümmel, Bockshornklee und Tagetes gesammelt und ins Salz gemischt – die Zusammensetzung der Zutaten bleibt geheim. Beim Anblick des Salzes in den dünnen durchsichtigen, mit einem Knoten geschlossenen Tüten fällt mir wieder ein, dass ich von dem Salz Swanetiens seit meiner Beschäftigung mit Sergej Tretjakow wusste. So hieß der Film von Michael Kalatozow, für den Tretjakow Ende der zwanziger Jahre das Drehbuch geschrieben hatte. Zweimal war Tretjakow für mehrere Wochen in Swanetien. Drei Filmdrehbücher und ein bis heute nicht ins Deutsche übersetztes Buch "Swanetien. Skizzen aus dem Buch In den Gassen der Berge", entstanden dort.1930 verschwand der Film unter dem Vorwurf des Formalismus in der Versenkung und wurde erst vor ein paar Jahren wiederentdeckt.

Sowohl auf den Fotos Wolfgang Koralls als auch im Film von Kalatozow verbindet sich das Künstlerische mit dem Beschwerlichen des Lebens und einer unberührt scheinenden kaukasischen Berglandschaft.

Wolfgang Korall ist auf ungewöhnlichem Wege nach Swanetien gekommen. 1977 hatte er in einem Buch des russischen Geografen Alexander Kusnezow eine Fotografie von Ushguli gesehen und eine unwiderstehliche Neugier, diesen Landstrich zu sehen und zu fotografieren, überfiel ihn. 1979 missglückte ein erster Versuch, weil Swanetien noch geschlossen war. 1984 musste er bei einem weiteren, nun geglückten Versuch aus der Hauptstadt Mestia fliehen, weil er eine Trauerfeier fotografierte - eine Beleidigung. 1987 und 1988 schaffte er es wieder und gewann das Vertrauen der Swanen. Er fand einen Freund, der ihm weithin sichtbar auf die Schulter klopfte. Ohne dieses Zeichen des Schutzes wären die unglaublichen Porträts der Menschen nicht möglich gewesen. Zum Beispiel das der alten Frau, die die Wäscheklammern an einer Strippe wie einen Patronengurt über der Schulter trägt, oder das des Kindes mit der selbstgebauten Kalaschnikow, die Porträts von Menschen, denen Sonne und Wind und Schnee die Haut gegerbt haben. „Sie sieht aus wie jene Hundertjährigen, von denen niemand mehr weiß, wann sie mit dem Zählen der Lebensjahre begonnen haben.“ Aus den Kindern wurden Lehrer, Ingenieure, Bergsteiger und Schachweltmeisterteilnehmer. Einer kam um, weil er der Zementmafia auf der Spur war. Es ist leicht hier, in den Tod zu stürzen, ob mit Absicht oder nicht. Am Rand der Straße nach Mestia künden heutzutage Grabanlagen von tödlichen Autounfällen, vor allem in den neunziger Jahren.

Seinen Bildern hat Korall kurze, anekdotische Texte beigegeben, die in ihrer Qualität das Buch zu einem Gesamtkunstwerk machen, was nur wenigen schreibenden Fotografen gelingt. Seine erste Fahrt mit dem Bus nach Ushguli hat seinen Blick geprägt, die kehligen Laute, die ihn verwirrten, die uralten und die ganz jungen Menschen, die seltsamen Türme, die an unsere Vorstellungen von Mittelalter erinnern, Häuser ohne Fensterglas und solche mit geschnitzten Veranden und kunstgeschmiedeten Zäunen. Weil Swanisch eine mündliche Sprache ist, gibt es jede Menge Sagen, von denen Korall einige erzählt. Auch über den Brauch der dreifach gesicherten Sippenikonen, der Ikonenwächter und Swanetien als sicherster Schatzkammer Georgiens klärt er uns auf.

Wenn ich in dem Buch blättere, möchte ich sofort wieder hin, auch wenn sich in den letzten 30 Jahren vor allem in Mestia einiges verändert hat. Es gibt seit ein paar Jahren sogar einen futuristisch anmutenden Flughafen.

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