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*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)
Ich hatte mir vorgenommen, nachdem ich eine Zeit lang die Petersburger Literatur zu verstehen versuchte, mich daran freute und festlas, mich von nun an ein wenig in meiner Lust auch der aktuellen russischen Hauptstadt zuzuwenden. Also jener, die ohne Zarensitz auskommt, mit Putin aber einen leidlichen Zarendarsteller beherbergt. Jedoch nicht der Kreml in seinem Prunk ist das Ziel meines Lesens, sondern eine literarische Bewegung, die sich Konzeptualismus nannte, und weit über die Literatur hinaus in die Kunst hinein wirkte. Oder aus der Kunst heraus in die Literatur.
In der Friedenauer Presse, nunmehr unter dem Dach von Matthes & Seitz, ist gerade ein Buch von Lew Rubinstein erschienen, das, seit es mich erreichte, neben meinem Kopfkissen liegt. Es heißt "Ein ganzes Jahr" und enthält neben den 365 Einträgen ziemlich spannende Bilder, die sowjetischen Abreißkalendern entnommen worden sind. Das Ganze in Halbleinen und wundervoll gestaltet. Rubinstein setzt darin den gewissermaßen offiziellen Einträgen zu historischen Ereignissen, die so ein Abreißkalender für gewöhnlich birgt, kurze persönliche Episoden entgegen. Beides, Offizielles und Persönliches, korrespondiert auf eine geradezu irrwitzige Weise.
Übersetzt wurden die Texte von Studierenden der FU Berlin unter Leitung der Slawistinnen Susanne Strätling und Georg Witte.
Rubinstein, der 1947 geboren wurde, gehörte neben Prigow, Sorokin und anderen jener Gruppe der Moskauer Konzeptualisten an.
Tatsächlich begegneten sie mir zuerst durch Arbeiten des bildenden Künstlers Kabakow.
Mitte der Neunziger sah ich eine Installation in Hellerau bei Dresden, im Festspielhaus, das notdürftig für eine Ausstellung hergerichtet war. Erbaut war es in einer fiebernden Vision des Aufbruchs. Symbol des Ying Yang in einem runden Erkerfenster. Kabakows Installation: Ein Ort, der durch die Zukunft hindurch ins Gegenwärtige ragt. "Der Mann, der in den Weltraum flog." Ein Ensemble von breiten starken Gummis aus einem Material, das mich an die Hosenträger beim Militär erinnert, hängt so im Raum, als hätte es einem Menschen als Katapult gedient, ein Loch ist in der Decke. Sehnsucht, seine Zeit zu verlassen? Illusion? Technisches Unvermögen? Aber der Mann ist fort.
Das Kunstwerk zeigte nur das Wie und nicht das Wohin. Zurück bleibt das Zeugnis seiner Anwesenheit und seines Abgangs. Menschenleer. Und wir als Betrachter. Ein Jahrhundert, ein Muster. Und hatte ich nicht auch irgendwann von einem solchen Loch geträumt? Im Plattenbau in Karl-Marx-Stadt auf dem Sofa liegend.
Im Grunde gab es gar keine Gegenwart, zumindest nicht für mich und nicht in Mitteleuropa. Ich hatte ja alles. Die Zukunft, das heißt in meinem Fall der Kommunismus; war in unerreichbare Fernen gerückt.
Der Sozialismus erblühte und starb zeitgleich zur Rockmusik, die, Ironie des Schicksals, nur mit enormer Verspätung durch den eisernen Vorhang drang. Man könnte einwenden, dass die Rockmusik überlebt habe, aber auch der Sozialismus lebt fort, als überzeitliche Illusion, als Untoter, als Stimme in einer Konserve, als übergroßes Foto.
Das alles findet sich auch in diesem Buch von Rubinstein. Zeiten schieben sich ineinander und Bedeutungen verschwinden oder laden sich auf.
Ich lese also in Rubinsteins Buch "Ein ganzes Jahr" und denke mir, schau doch mal was unter dem 19. Februar steht, denn da ist mein Geburtstag. Und bei Rubinstein steht, dass Nikolaus Kopernikus an diesem Tag Geburtstag hat, genau wie er. Es geht doch mit dem Teufel zu.
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