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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Tunnelromane“ — Der Himmel unter der Stadt

Mein kleiner Buchladen: „Tunnelromane“ — Der Himmel unter der Stadt

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDienstag, 29.11.2016

Zurzeit recherchiere ich unterirdische Bauten, Tunnel, Katakomben, Fluchtwege. Menschen haben seit jeher Höhlen und Erdlöcher bewohnt, bemalt, ausgebaut. Kürzlich staunte ich über mir bisher unbekannte „Erdställe“, deren Funktion ungeklärt ist. Es handelt sich um unterirdische Anlagen, spitzbogige oder halbrunde Gangsysteme, die in die Erde gegraben wurden und mit Schlupfen = Engstellen zum Durchschlüpfen (Durchmesser circa 40 Zentimeter) versehen sind. Etwa 2000 von ihnen werden in Europa gezählt, labyrinthisch durchziehen sie Kirchberge, Friedhöfe und den Untergrund alter Siedlungsplätze. Ihre Nutzung bricht um 1000 nach Christus ab und die meisten dieser im Volksmund „Erdweiblschlupf", „Zwergloch", oder „Alraunhöhle" genannten Gänge, wurden zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert unbrauchbar gemacht, verfüllt. Manchmal bricht eine Kuh beim Weiden ein oder ein Bagger rutscht ab — und wir erfahren in den Medien von der Auffindung eines dieser Gangsysteme.

Was macht die Magie unterirdischer Bauten aus? Ihre irrationale Architektur, wie bei den Erdställen? Die Vorstellung der Dunkelheit, des Abtauchens in die Tiefe? Wo sich Menschen vor Verfolgung verbargen, vor Konflikten flohen oder schlicht Schutz vor den Unbilden des Wetters suchten und suchen? Im Bestand meines Lädchens finden sich zwei Romane mit dem blanken Titel Der Tunnel. Eines von Bernd Kellermann und eines von William H. Gass, letzteres ein Tausendseiter. Das vorliegende Buch hat den Tunnel nicht im Titel, aber zum Thema, wie mir der Blick auf die Rückseite verriet, als ich den Roman aus einer Kiste fischte. Verfasst von Colum McCann, einem Autor, der mir durch seine späteren Romane „Der Tänzer“ und „Zoli“ bereits an Herz gewachsen war. 1965 in Dublin geboren, trieb sich Colum McCann schon sehr jung in den USA herum, unternahm eine zweijährige Fahrradtour durch vierzig amerikanische Staaten, arbeitete als Taxifahrer, Anstreicher, Mechaniker, Barmann sowie als Sozialarbeiter mit straffälligen Jugendlichen und studierte in Texas Englisch und Geschichte. Mitte der neunziger Jahre ließ er sich endgültig in New York nieder und schuf mit seinem zweiten Roman der Stadt ein Denkmal. In der Danksagung des 1997 unter dem Titel „This Side of Brightness“ publizierten Buches (auf Deutsch „Der Himmel unter Stadt“, 1998) erwähnt er das New York Transit Museum und die Shomburg Library in Harlem, die zahlreichen Tunnelarbeiter, die er interviewte, sowie die Männer und Frauen der New Yorker Tunnel, „die mir ihr Leben und Zuhause geöffnet haben“. Auf knapp 350 Seiten erzählt McCann die Geschichte des ersten New Yorker Tunnels unter dem East-River hindurch, der Verbindung zwischen Manhattan und Brooklyn. Anfang des letzten Jahrhunderts wurde dieser U-Bahntunnel von Hand durch den Flussgrund gegraben, Männer mit Picken und Schaufeln schlugen unter heißer Druckluft eimerweise den Schlick aus dem Flussboden. Vier Freunde sind Vorarbeiter, einer erst achtzehn Jahre alt. Wir werden diesen Nathan Walker kennenlernen und mit seinem Enkel achtzig Jahre später durch eben jenen Tunnel ziehen, obdachlos, einsam, tief unter der Erde.

Mich faszinierte vor allem ein Ereignis gleich zu Beginn des Romans, von McCann so plastisch beschrieben, dass ich es sah. Bei der Arbeit des Montagetrupps unter Tage ist ein Loch im Flussbett aufgegangen, Luft zischt hinaus. Zuerst ist die Öffnung groß wie eine Faust, dann wie ein Herz, dann wie ein Kopf. Der Italiener kann nur zusehen, wie der junge Schwarze eingesaugt wird, wie ein Korken im Tunnel steckt. Vannucci packt Nathan Walkers Füße, die beiden Kumpels O'Leary und Power hängen sich an Vannucci. Werden allesamt vom Loch verschluckt.

„Und dann durchbrechen die drei Männer die Oberfläche des East River, verfehlen mit den Köpfen nur knapp die Eisschollen, schießen hinauf in die Luft, nur noch in Overalls und Stiefeln, die Brust zieht sich ihnen wie verrückt zusammen und dehnt sich wieder aus, sie speien Wasser und Schlamm, schlucken Sauerstoff, spüren ihre Gehirne klopfen, einige Werkzeuge vom Tunnel begleiten sie, Platten wirbeln, ein Druckstempel schlägt Rad, ein Sack Heu, ein Mantel, ein Hut, ein Hemd, die undenkbarsten aller Gegenstände. Es ist Morgen, es ist hell, und sie sind oben auf einem riesigen braunen Geysir, sie selbst, ihr Dreck und ihre Tunnelausrüstung.“

Der Ire bleibt während des Aufstiegs stecken und steckt wahrscheinlich noch heute unter dem Fluss, zwischen Tunnel und Wasser. All dies ist in McCanns wunderbarem Roman festgehalten. Die Jetzt-Zeit der Erzählung ist ein Winter in den Achtzigern, Nathans Walkers Enkelsohn, Wolkenkratzer-Gerüstbauer und Luftakrobat im Eigentlichen, trabt durch den eisigen Tunnel, erklimmt sein Nest, einen Unterschlupf der damaligen Tunnelbauer. Hier liegt seine Matratze, stehen seine Pinkelflaschen, schürt er Feuer und zeichnet seltsame Karten. Begegnet anderen Ausgestoßenen und Geflüchteten. Mit welcher Würde der Autor sie auszeichnet, hat mich berührt. Wie in all seinen Romanen erwischt mich McCann mit Schilderungen von Ausnahmesituationen, die ich so noch nie gelesen hatte, die sich einbrennen. (Beim „Tänzer“, dem Roman über die Ballett-Ikone Rudolf Nurejew, war es die Schilderung der russischen Frontsoldaten, die in den Schützengräben in ihre Unterhosen urinieren und diesen Moment der Hitze genießen – um sich Minuten später den gefrorenen Urin von den Hoden zu pellen)

Der Tunnel als Obdach ist mir vertrauter geworden im Laufe der Lektüre, ich bin gespannt auf weitere Tunnel- oder unterirdische Romane, nehme gerne Tipps entgegen.

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Kommentare 1
  1. Annika Reich
    Annika Reich · vor 8 Jahren

    Toll, vielen Dank!

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