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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Frische Bücher“ – Skandinavisches Viertel

Mein kleiner Buchladen: „Frische Bücher“ – Skandinavisches Viertel

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnFreitag, 13.04.2018

"Wenn Matthias schnell geht, ist er in zehn Minuten in Skandinavien."

Es ist genau vierzehn Jahre her, dass Torsten Schulzes literarisches Debüt "Boxhagener Platz" das Licht der Welt erblickte. Der Roman spielte in wenigen Wochen des Jahrs 1968 rund um den Boxhagener Platz in Berlin Friedrichshain. Um den halbwüchsigen Jungen Holger baute der Autor die Kosmen verschiedener Generationen zu einem Kammerspiel reinster DDR-Satire auf. Die von mir erhoffte Verfilmung erfolgte sechs Jahre später, nach dem Drehbuch seines Schöpfers unter der Regie von Matti Geschonneck. Zurzeit wird Torsten Schulzes zweiter Berlin-Roman "Nilowsky" (2013) um den Jungen Markus am Berliner Stadtrand in Szene gesetzt. Mit dem "Skandinavischen Viertel" erscheint dieser Tage der dritte Ost-Berlin-Roman des Autors. "Das Leben hat mir das nun mal beschert", sagte Torsten Schulz neulich in einem Interview. Diesmal ein anderes Viertel, weniger Berlin-Dialekt, ein breiter Handlungsstrang in der Gegenwart. Eine ostdeutsche Familiengeschichte mit Lügen und Geheimnissen – und ein Makler im heutigen Prenzlauer Berg, der selbstherrlich über das Schicksal "seiner Wohnungen" entscheidet.

Torsten Schulz ist mir seit der wöchentlichen Veranstaltungsreihe "Sklavenmarkt", die ich von 1996-1999 im Prenzlauer Berg mit organisierte, ein lieber Bekannter. Wir zeigten seinen Dokumentarfilm "Kuba Sigrid", feierten und diskutierten über die Stasi-Verstrickungen der Szene und den beginnenden Ausverkauf des Prenzlauer Berges. Torsten war immer kontrolliert im Umgang und subversiv in seiner Kunst. Als ich jetzt den Sammelband wieder zur Hand nahm, den Guillaume Paoli und ich im Jahr 2000 als Abgesang der Veranstaltungsreihe herausgaben (übrigens damals das Buch des Lukas-Verlages mit den meisten Webaufrufen und den wenigsten Verkäufen – aufgrund des irreführenden Titels), las ich den Text "Kuba Sigrid" wie zum ersten Mal. Torsten Schulz beschreibt die Dreharbeiten auf Kuba, die sich eher zufällig auf Sigrid konzentrierten. "Sie wohnte unter sehr ärmlichen Umständen in einem kleinen Holzhaus, dessen Inventar – Schrankwand, Schwarz-Weiß-Fernseher, Couchtisch – zum Teil aus der DDR der siebziger Jahre stammte, und sie sprach in einem herrlich kraftvollen Berliner Dialekt." Sigrid, Kind einer Ost-Berliner Polizistin, floh nach Kuba und bot dem Filmteam ihr kleines Reich aus sie umkreisenden "Satelliten-Männern", Wunderglauben und schamanischen Perlenketten beinahe exibitionistisch dar.

Von der Beteiligung an den Filmerlösen konnte Sigrid Berlin besuchen und das Grab ihrer Mutter, schreibt Schulz in seinem dreiseitigen Bericht. Sie fühlte sich befreit wie noch nie und hatte, "bei aller Suerrealität ihrer Vorstellungen, eine Identität gewonnen, die ihr nicht mehr abhanden kommen konnte. Sie verließ, freudig und zukunfstoptimistisch, Berlin und heiratete in Havanna ihren Geliebten Hacinto."

Matthias braucht von Pankow ins Skandinavische Viertel zehn Minuten, wenn er schnell geht – mit diesem Satz beginnt der Roman. Das Viertel grenzt an den Berliner Wedding, wird noch heute von Mauerpark, Bornholmer Straße, Schönhauser Allee und Falkplatz gerahmt. Ein Mikrokosmos wie eine Theaterbühne. Torsten Schulz lässt den Jungen laufen, Straßennamen auf dem Stadtplan korrigieren und träumen.

"Später, im Kommunismus oder wo auch immer, werden die Straßen so heißen, wie er es jetzt in seinen Stadtplan geschrieben hat. Später wird er der zuständige Funktionär für das Viertel sein und der Onkel sein Stellvertreter, sofern er sich bis dahin nicht zu Tode gesoffen hat."

Im Vor- und Nachsatz des 263 Seiten starken Romans ist der Stadtplan des Zwölfjährigen abgebildet, zum Beispiel wird die Gleimstraße bei Matthias zur Helsinkier, die Cantian zur Osloer und – mir zur besonderen Freude – die Rhinower zur Reykjaviker Straße. In der Gegenwart ist Matthias tatsächlich zuständig für das Viertel, schon auf Seite 14 schlägt Torsten Schulz den prophetischen Bogen:

"Einer, der mit Wohnungen handelt, die sich nur im Umkreis einiger Straßen befinden, dem muss das wohl eine Herzensangelegenheit sein. Und wer anders als so ein Mann sollte diesen Teil von Prenzlauer Berg besser kennen? Matthias Weber – Ihr Fachmakler für das skandinavische Viertel in Prenzlauer Berg – so heißt es auf seiner Webseite."

Die Wohnung der Großeltern im Skandinavischen Viertel, in welcher der stets saufende Onkel noch mit seinen Eltern lebt, ist Dreh- und Angelpunkt des Romans. Aus der kindlichen Perspektive erfahren wir nach und nach Familiengeheimnisse, erkunden die scheinbar seit dem letzten Krieg unveränderte Wohnung mit ihren geheimnisvollen Zimmern, finden Schachteln und Hinweise, entblättern immer wieder Überraschendes.

Torsten Schulz, seit 2002 Professor für Praktische Dramaturgie und Leiter des Studiengangs Drehbuch/Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, hat sich für diesen Roman treiben lassen, die wachsenden Proportionen der verschiedenen Zeitebenen als Abenteuer empfunden – und spielerisch wie professionell in zauberhafte Prosa gegossen. Es ist höchst vergnüglich, dieses Skandinavische Viertel zu betreten, Matthias als Kind über die Schulter zu schauen, wie er den Onkel in der Weiber-Bar sucht, im Kummer-Eck, in der Gute-Laune-Destille oder im Schluckspecht. Onkel Winfried spült mit Bier nach, war einmal in Helsinki und mag Matthias' Mutter sehr...

Dass Matthias Makler in seinem Lieblingsviertel wird, ist eine schöne wie nachvollziehbare Erfindung des Autors, der selbst für Eigentum plädiert. Dieses müsste jedoch für Normalverdiener erschwinglich sein. Schulz kritisiert in Gesprächen oft die Gereiztheit und Hysterie in den Debatten, letztendlich unseren Alarmismusjournalismus, mit dem wichtigere Themen überdeckt werden. Ein bisschen war mir deshalb bei der Lektüre des "Skandinavischen Viertels", als säße ich in einer Heiner Müller Inszenierung der achtziger Jahre, zwischen den Zeilen knallt grelle Kritik auf, schwenken Scheinwerfer über sanierten Fassaden und reißen schwarze Spalten hinein.

13. 4. Berlin Kulturbrauerei (Maschinenhaus)| Buchpremiere "Skandinavisches Viertel"

19. 4. Literaturforum im Brecht-Haus (Chausseestraße 125) Lesung "Skandinavisches Viertel"

 

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