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Quelle: privat
Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
In einer solchen Zeit wie dieser ist es nicht einmal ein Vergnügen, einzukaufen. Selbst den Frauen, den geborenen Ernährerinnen, macht es keine Freude mehr, in einen Laden hineinzugehen mit dem Wunsche, das Schönste und Beste für die Kinder oder einen Mann zu kaufen, wenn man bald dieses, bald jenes nicht bekommen kann, sei es auf Grund von Devisenschwierigkeiten oder aus Mangel an Transportgelegenheit.
Zwei Kisten und ein Koffer voller Bücher wanderten letzte Woche aus dem Kofferraum meines alten Dacias in den Laden, aussortiert aus den „3. Reihe-Beständen“ meines Vaters in Magdeburg. Diese vorerst letzte Reise führte mich zu einer inzwischen ohne Publikum schlummernden Ausstellung im Funkhaus des MDR in meiner Heimatstadt. Beim Durchschauen der neuen Schätze in Berlin fiel meinem Freund das Büchlein „Aus der Tiefe rufe ich“ von Cläre M. Jung in die Hände, 1946 im Ost-Berliner Aufbau-Verlag herausgegeben. Es ist der erste und bis jetzt einzige veröffentlichte Roman der Autorin, Journalistin und Weggefährtin Franz Jungs, eines anarchistischen Verweigerers, der auch in unserem Leben eine Rolle spielt(e). Von 1996 bis 2000 führten wir (einige Aktive um die von Franz Jung inspirierte Zeitschrift SKLAVEN und die daraus resultierende Abspaltung SKLAVENAUFSTAND) im Berliner Prenzlauer Berg wöchentliche Veranstaltungen als SKLAVENMARKT durch.
"Aus der Tiefe rufe ich" ist ein billiges Pappbuch, schiefgelesen, das Papier stark nachgedunkelt. Als ich es aufschlage, finde ich den Besitzerstempel und verstehe. Das Buch gehörte Tante Christa. Als meine Mutter in Magdeburg Krankenschwester lernte, wohnte sie in einem Hochhaus nahe des Altstadt-Krankenhauses, Christa war ihre Nachbarin, wurde ihre Freundin und meine Patentante. (Sie enterbte mich mit siebzehn aufgrund meines Lebensstils/Partys/Freund). Tante Christa nörgelte ewig an ihrem Mann herum. Onkel Jochen okkupierte ein Zimmer der Zweiraumwohnung, welche er mit Christa bis zu ihrem Tod bewohnte, mit seiner Modelleisenbahn. Als Kind bewunderte ich mit ihm im Halbdunkel des zugebauten Zimmers die elektrische Eisenbahn, wie sie durch Tunnel sauste, sich in die Kurven legte und die Signale blinken ließ. Im Hintergrund waberte der Beschwerdesound aus dem Wohn-Schlafzimmer herüber. Als ich ihn vor einigen Jahren im Altersheim besuchte, strahlte Onkel Jochen mich an und machte mir einen Heiratsantrag.
Aber Alice, die in alten Briefen wühlt und liest, Alice kann nicht zugeben, auch nur einen davon zu verbrennen. Briefe, in denen sich ihr Leben spiegelt, Briefe aus jener schönsten Zeit in jedem Frauenleben, Dokumente, die ihr bezeugen, daß es Männer gab, die sie geliebt haben – sie will und muss sie vor der Vernichtung retten.
Auf Seite 132/133 des Romans von Cläre Jung stoße ich auf diese Zeilen, es kostet mich Überwindung, das Buch zu Ende zu lesen. Ich überfliege die losen Erzählfäden um eine Handvoll jüdische Berliner, welche versuchen, die Naziherrschaft zu überstehen. Die Handlung springt zwischen mehreren Personengruppen, eingefügt sind die Erlasse gegen Juden, eine Chronologie der Ereignisse. Eine Großmutter schickt ihren Enkel auf den rettenden Transport nach Holland und sehnt sich nach einem Ersatzkind, zwei Schwestern wollen ohne die bettlägrige Mutter nicht "flitzen". Die Frauen sind auf weibliche Attribute reduziert, das mütterliche wird mir zu stark betont – resümiere ich, bis ich mich parallel dazu in den Stapel der Franz-Jung-Bücher, die ich aus meinen Regalen zusammenklaube, eingelesen habe.
Finde den Abschiedsbrief, den Cläre an Franz schrieb, nachdem sie (die zwei Fehlgeburten erlitt) erfahren hatte, dass aus seinem Verhältnis zu einer jüngeren Frau eine Schwangerschaft hervorging. In Fritz Mieraus biografischem Essay "Das Verschwinden von Franz Jung" ist dieser Brief abgedruckt, ein Verzweiflungsschrei: "Dein Werk, das sich vollendet – vielleicht das beste – die Bestätigung eines Lebens. Es ist eine viel tiefere Erfüllung, als je ein neugeborener Mensch, ein Kind, zu geben hätte." Cläre bringt sich nicht um, sondern nimmt Harriet und Franz in ihre Wohnung auf, welche sie mit dem Exmann Harriets bewohnt. Peter Jung wird geboren und von Tante Cläre umsorgt, bis die neuformierte Familie Jung sich ins Exil begibt.
Wie Annett Gröschner mit Peter Jung in ihrem biografischen Buch "Ein Koffer aus Eselshaut" feststellt, wusste Harriet Jung (nach Cläre die dritte Ehefrau Franz Jungs), dass er "ein Zerstörer war. Aber ein junger Zerstörer übt oft eine große Anziehungskraft auf andere Menschen aus." Dem Roman Franz Jungs "Die Eroberung der Maschinen", 1990 im Mitteldeutschen Verlag erschienen, ist ein Gespräch mit der 85-jährigen Cläre Jung beigefügt, in welchem sie sagt; "er war disziplinlos und in gewisser Weise auch selbstzerstörerisch." Er habe oft daran gedacht, sich umzubringen, schreibt Franz Jung in "Der Weg nach unten." Er habe sich an eine Frau geklammert "aus der reinen Existenzangst heraus, unterzugehen. Ich hatte für diese Frau zu sorgen." In Wirklichkeit sorgt sich Cläre mit ihrem neuen Gefährten Felix Scherret um das Wohl der Ex-Partner und unterstützt beide bis weit nach Ende des Krieges. Cläre bleibt in Berlin, erlebt die Bombardements und die Abholung der jüdischen Nachbarn in die Vernichtungslager mit. Ihr Debütroman ist eine Abrechnung mit diesen Erlebnissen, dem moralischen Versagen ihres Volkes und eine Chronik der (eigenen) Versuche, Menschen zu helfen.
Der 1980 im Leipziger Reclam-Verlag von Cläre M. Jung und Fritz Mierau herausgegebene Band "Franz Jung – Der tolle Nikolaus" enthält neben einiger Prosa auch den Briefwechsel Franz Jungs mit Cläre. Sie schreibt im Oktober 1947 nach Masi di Calvese, sie habe Franz ihr Buch "Aus der Tiefe rufe ich" geschickt, in dessen Beurteilung die Meinungen stark auseinandergegangen seien. "Während einzelne Kritiken sehr positiv waren, gab es andere, die das Buch ziemlich verrissen haben." Und etwas später: "Ich bin überzeugt, daß meine Arbeiten in einer ähnlichen Weise wie der von Dir angedeuteten um eine Klärung bemüht sind." Franz Jung antwortet zwei Wochen später, er danke Cläre für die Zusendung des Buches, welches er mit großem Interesse und sehr eingehend gelesen habe. Und führt aus:
Gefallen hat mir besonders die sehr prägnante Darstellung nach der realistischen Seite hin und ein sehr guter Dialog - [...] Du brauchst jetzt nur noch eine tragbare Idee, ich möchte sagen, das Schwergewicht einer Idee. An diesem Schwergewicht fehlt es in diesem Buch [...] Infolgedessen wirkt es wie eine Zusammenstellung von Beobachtungen. Das gleiche läßt sich übrigens gegen die meisten meiner Bücher auch sagen. Trotzdem lese ich einige Themen heraus, die in einer sehr guten Anlage leider nur angedeutet sind und dann fallengelassen, ich möchte Dir raten, sie zu halten und darum das andere Beiwerk zu gruppieren ...
Cläre Jung hat bis an ihr Lebensende in Ost-Berlin gelebt und geschrieben, ihre Erinnerungen an die zwanziger und dreißiger Jahre erschienen postum, ihr Debüt-Roman wurde 2004 wieder aufgelegt. Franz Jungs Leben erfuhr zuletzt 2018 eine großartige Bühnenadaption am Berliner HAU.
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Schön, dass Du an Cläre Jung erinnerst. Auch später noch, als sie in unterschiedlichen Welten lebten, Cläre in der DDR und Franz Jung in New York, haben sie lange Briefe gewechselt über das Schreiben.