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Literatur

Mein kleiner Buchladen: "Berlinromane" – Das Mädchen an der Orga Privat

Quelle: privat

Mein kleiner Buchladen: "Berlinromane" – Das Mädchen an der Orga Privat

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnMittwoch, 09.01.2019

Eines Morgens, im Frühjahr 1928, kommt ein junges Mädchen mit dem Leipziger Zug auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an. Niemand erwartet sie. Niemand beachtet sie in dem Gewühl dieses Berliner Arbeitsmorgens, unter dem Rauch eines feuchten, traurigen Himmels.

Vor einigen Monaten fand ich im Belletristik-Regal ein dünnes Taschenbuch mit der stilisierten Zeichnung des Gesichtes einer Frau auf dem Cover, einer Hand und einer Schreibmaschine – auf dem Backcover steht: …"sie hat Mut und ein gesundes Rechtsgefühl, und so wird sie unversehens zur Heldin."

1960 im Ost-Berliner Dietz-Verlag erschienen, ist das Taschenbuch gilbig, die Folie löst sich ab, die Klebebindung gibt sich dem Verfall anheim. Behutsam las ich den kleinen Roman um eine junge Frau im Berlin von 1928, der mit den oben zitierten Zeilen beginnt. Erna Halbe, knapp 19 Jahre, findet ein möbliertes Zimmer im Osten der Stadt und arbeitet als Tippmädchen am Alexanderplatz. An einer Orga Privat, einer klobigen und schwerfälligen Maschine, die schon 1928 veraltet war. Sie lernt ihre Kolleginnen kennen und sich zu einer Selbstbewusstheit führen, die den Tippmädchen bisher abging. Aus den Ängstlichen werden Freundinnen, Kämpferinnen. Erna organisiert einen Streik für bessere Arbeitsbedingungen, der letztendlich scheitert – sie wird entlassen. Aber: "was sie tat, wird nicht vergessen, es wächst und wächst."

Zugegeben: der Stil nervt mich. Spiegelt sich Erna in einer Schaufensterscheibe, schreibt der Autor: "Herrjeh, was hat sie für einen Kopf! Daran ist so ziemlich alles verpfuscht." Selten finden sich prosaischere Absätze wie dieser:

Der Abend und das Dunkel kommen, zwischen den Bäumen flammen Lichtaureolen auf, seltsam unterbrochene Laufschrift malt feurigrot unverständliche Worte an die Häuser, die Sterne ziehen darüber hin und darunter die Menschen.

Der 1907 in Dresden geborene Autor Rudolf Braune schrieb mit dem Mädchen an der Orga Privat bereits seinen dritten und letzten Roman, bevor er fünfundzwanzigjährig bei einem Badeunfall im Rhein ertrank. "Vor den Augen seiner Freundin", schreibt Otto Gotsche im Nachwort meiner Ausgabe und bedauert den frühen, tragischen Tod des revolutionären Schriftstellers. Rudolf Braune war Kommunist, Reporter, Kritiker und Buchhändler – im Kontext seiner Zeit gesehen enthielt diese 1930 veröffentlichte und zweimal wiederentdeckte Geschichte eines mutigen Arbeitermädchens sicherlich ein hohes Identifikationspotential, mich stören jedoch die ständigen Verkleinerungen Ernas.

Sie steht allein in dieser Stadt Berlin, ein Büromädchen, eine schlecht bezahlte Tippse, ein kleines Mädchen von nicht ganz neunzehn Jahren, aufgewachsen in einer strengen, klaren Arbeiterwelt...

Was mir an dem (übrigens in der DDR-Ausgabe seltenen) Buch gefällt, sind die Berlin-Verortungen, der Alexanderplatz, ein Tanzcafé in Charlottenburg, der Prenzlauer Berg mit seinen vollgestopften Mietskasernen, der neueröffnete Luna-Park mit Kettenkarussell, Shimmy-Treppe und Eisernem Meer und immer wieder das Aschinger am Alexanderplatz. Schon hüpft mein Herz höher, weil ich an Szenen aus Ernst Haffners Roman "Blutsbrüder" denken muss, der mich vor einigen Jahren umwarf. Dort finde ich am besten beschrieben, was das Lebensgefühl der Armen und Geringverdiener im Berlin um 1930 ausmachte. Auch bei Haffner löffeln die Minderjährigen (unter 21 Jahren) ihre Suppe bei Aschinger und planen den nächsten Bruch – ähnlich wie die Protagonisten in Otto Nagels "Das Nasse Dreieck".

Zurück zum Büro-Roman, Berlin, um 1930. Bei den nur flüchtig angeschnittenen Beschreibungen der Bürowelt (einer Eisenverwertungsgesellschaft) durch Rudolf Braune – sein Roman besteht hauptsächlich aus Dialogen – fiel mir das Gegenteilige ein, es gibt einen Roman, den ich wärmstens empfehlen möchte: Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel. 1932 erstmals bei DVA erschienen, 1973 und 2001 wieder aufgelegt, schildert das Buch auf hohem literarischen Niveau und minutiös das Arbeitsleben Max Brechers im Büro der UVAG (der "Universalen Vermittlungs-Actien-Gesellschaft"), einem Medienkonzern in der Berliner Friedrichstadt.

Ich schnappe just das knapp 600 Seiten dicke Buch und möchte sofort noch einmal zu lesen beginnen:

Täglich, zumal bei Büroschluß, läuft ein Zittern durchs Zentrum, durch die Fundamente Berlins, als wäre nun wieder etwas Unvorhergesehenes im Gang.

Alles ist unterwegs. Wer sich frühmorgens pünktlich im Gebäude seiner Firma eingefunden hat, wird nun wieder – nach einem funktionellen Verdauungsprozeß, der den Menschen zur bloßen Arbeitskraft degradiert und deren Bestes sich zunutze gemacht hat – auf die Straße gesetzt und seinem Privatschicksal überlassen. Die eine Organisation entläßt, die andere empfängt, aus der Arbeitskraft wird ein Fahrgast oder ein Fußgänger. Diesen wiederum öffnen sich Kinos und Restaurants, und jedes Stadium fordert seinen Tribut...

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