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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
„Meine Härren, ich frage Sie: wissen Sie, woher das Wort H o o l i g a n t u m kommt und was es bedeutet? Das Wort H o o l i g a n? Sie wissen es nicht? Niemand weiß es? Muss ich annehmen, dass Sie trotz all unserer Anstrengungen ungebildete Härren sind? Dass es auch unter den älteren Jahrgängen keinen Einzigen gibt, der in der Äntzyklopädie so weit geblättert hätte, dass ihm ein Wäntziges im Gedächtnis haften geblieben ist?“
Auf Seite 10 stellt der Direktor des Wikmanschen Gymnasiums, Herr Wikman selbst, diese Frage seinen Schülern. Ich hatte das backsteinschwere Buch vor einigen Tagen misstrauisch in den Händen gewogen. Beschlossen, mich erst in seine 573 Seiten zu stürzen, wenn sich Spannung entwickeln würde – möglichst nach wenigen Absätzen. Mit obigem Zitat war es geschehen. Ein Gymnasium in unbestimmter vorelektronischer Zeit, halbwüchsige Jungs, ein Direktor und ein Dutzend Lehrer. Kurz vor den Sommerferien. In einer Stadt am Meer. Zwei Seiten nach der wütenden Direktorenansprache erfolgt die geflüsterte Definition eines Schülers der Zehnten, wonach das Wort Hooligan der Familienname eines jungen Iren gewesen sei, der um 1890 in London einige Gaslaternen in Scherben geschlagen habe. Das stimme, ruft der Direktor und streicht den Namen Pukspuu seiner Hooligan-Taten wegen wortreich von der Liste der Schüler dieses Gymnasiums – inklusive der Klausel, Pukspuu könne dennoch in die elfte Klasse versetzt werden, wenn er in a l l e n Fächern Examen ablegen würde.
Wir fallen in das Universum des Gymansiums. Die Zöglinge befinden sich an der Schwelle zum Abitur, welches mit Abschluss der elften Klasse erworben wird. Zwei Handvoll Jugendlicher zwischen sechzehn und achtzehn, einige Monate ihres Lebens, minutiös und kurzweilig beschrieben. In ständige Sprachspiele und Akzente der Vielvölkerschar verstrickt, (die Übersetzung dieses Romans war gewiss eine harte Herausforderung) preschen die Jungs durch Schule und Freizeit, schreiben Klausuren, hecken Streiche aus, büffeln, rauchen, trinken billigen Wein und schauen den Mädchen hinterher.
Mir war das Wort Hooligan seit meiner ersten Reise in die damalige Sowjetunion vertraut, als Bezeichnung für Trunkenheit und Lärmen. Eine ähnliche Erklärung findet sich in vielen europäischen Sprachen. Und wie unter einem multikulturellen Brennglas geht es in Kross' Roman voran, der Direktor hält in der besagten Zehnten eine Ansprache, nachdem ein Papierkorb voller Magnesium dem Religionslehrer die Augenbrauen versengt und kein Schuldiger außer dem erwähnten Pukspuu, der ein brennendes Streichholz hineinfallen lassen hat, zu finden ist. Der Trick des Autors: Er erzählt uns die Geschichte Estlands aus Sicht der Heranwachsenden, der Lernenden. Mit ihnen erfahren wir, worauf Wikman so stolz ist: dass auf seinem Gymnasium die Sprachen Estnisch, Französisch, Englisch und Deutsch gelehrt und gesprochen werden. Alternativ Latein und Russisch, fakultativ Finnisch und Polnisch. Spielerisch erleben wir das nationale Erwachen der kleinen baltischen Republik mit, seit 1918 erstmals in ihrer Geschichte unabhängig und befreit von deutscher oder russischer Doktrin. Als erster Jahrgang legen die 1920 Geborenen ihr Abitur in estnischer Sprache ab.
Hauptfigur und Alter Ego des ebenfalls 1920 geborenen Autors ist Jaak Sirkel, ein Kleinbürgersohn, Klassenprimus und Hooligan in einem. Die Jungs helfen Juss Pukspuu, alle Examen zu bestehen, schummeln bei Klausuren und schaffen es, lästige Prüfungen zu umgehen, ärgern ihre Lehrer – und verlieben sich. Dass Jaak der schönen, klugen Vivre Pukspuu verfällt, ist nur deshalb problematisch, weil der Nachhilfelehrer ihres Bruders Juss ebenfalls für sie entbrennt. Riks und Jaak werden Konkurrenten. Während Jaak an einem Vortrag über den estnischen Dichter Kreutzwald feilt, der einige Jahrzehnte zuvor die junge Poetin Koidula als Schriftjungfrau diffamierte, als Tintenfee und Schwenkerin der Strümpfe – geht Riks im Hause Pukspuu ein und aus...
Gut 500 Seiten umfasst die chronologisch eng gestrickte Erzählung der Gymnasialzeit Jaaks bis in den Herbst 1938. Das Buch endet mit dem fünf Jahre später spielenden Klassentreffen einiger der Protagonisten und nimmt angedeutet vorweg, was Kross in seinem Nachfolgeroman ("Der Mesmer-Kreis", 1995, nicht ins Deutsche übersetzt) beschreibt – die Verhaftung Jaaks durch die deutschen Besatzer, die Versprengung der Zöglinge an verschiedene Fronten, ins rettende Ausland oder in den frühen Tod. Jaan Kross wurde ebenso verhaftet, zunächst von den deutschen Besatzern, später durch die sowjetischen Befreier, er kehrte nach achtjähriger Haft und Zwangsarbeit 1954 aus deren Lagern zurück, als angehender Lyriker und Schriftsteller. Sicherlich der sowjetischen Zensur geschuldet, verfasste Kross etliche historische Romane, bevor er sich Ende der achtziger Jahre einem autobiografischen Stoff widmete – seiner Gymnasialzeit.
In Estland gehört dieser Roman zum Kulturgut. Manchen gilt Kross als bedeutendster baltischer Autor, mehrfach war er für den Nobelpreis nominiert. Mich begeistert sein Humor, die Leichtigkeit der Bilder und sein Anspruch, trotz überstandenem Gulag dem Zauber der Jugend eine Sprache zu geben.
Jaan Kross "Wikmans Zöglinge" Osburg Verlag 2017
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Der Roman und alles, was ich bislang von Jaan Kross las, kann ich empfehlen.
Ich schrieb auch mehrere Artikel über ihn, leider ist keiner kostenfrei:
https://www.nzz.ch/feu...
Sehr zu empfehlen ist sein auf Deutsch übersetzter, aber nur noch antiquarisch erhältlicher
autobiographischer Roman „Ausgrabungen“, den Kross in den 1980er Jahren schrieb, der
aber erst 1990 erscheinen konnte. Hier fanden die Esten eine erste, bis heute gültige
Darstellung ihrer geschichtlichen Traumata von Deportationen, Kollaboration
und Auslöschung ihrer Eliten. Die autobiographische Hauptgestalt, wie Jaan Kross Gefangener unter Hitler und Stalin, erlebt die ganze Tragödie des estnischen Bürgertums.