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Wie man zu neuer Literatur gelangt, ist oft eine sehr zufällige Angelegenheit. Man kann sich da zum Beispiel auf ein Internetportal verlassen, das einem verschiedene Empfehlungen zurecht sortiert. Manchmal kommen die Ideen, was man lesen könnte, aber auch auf ganz ungeahnte Weise zu einem.
Es war neulich, im Dezember, da saß ich im Bus, das Wetter war irgendwie Winter, aber eigentlich war das egal und eigentlich war es auch egal, dass es im Dezember war, wichtig ist nur, dass ich im Bus saß. Eigentlich rede ich im Bus aus Prinzip nicht mit anderen Menschen, denn Leute, die einen in öffentlichen Verkehrsmitteln grundlos ansprechen sind entweder Irre oder Touristen oder – der schlimmste Fall – halbirre Touristen.
Ich las gerade ein Buch, als sich gegenüber von mir ein älterer Herr (grauer Schnauzer, beige Jacke) hinsetzen wollte, ich schaute erst gar nicht auf, da touchierte er mich ganz leicht, kaum merklich, mit einer der Einkaufstüten, die er dabei hatte, am Bein. Sofort entschuldigte er sich bei mir mit einer überaus hochentwickelten Höflichkeit, aber ich winkte ab, es war ja nichts, doch er schaute mich weiter an, als wollte er mit mir ins Gespräch kommen. Da blickte ich schnell und energisch wieder nach unten und versteckte mich hinter meinem Buch. Nein, nicht jetzt, nicht mich, nein, nein, nicht reden, nein.
Er wusste es besser. Er fragte mich: “Lesen Sie da einen roman?” (er sprach das Wort mit französischen Nasalen aus, obwohl er sonst keinen französischen Akzent hatte), und als ich antwortete: "Ja, äh, das ist, äh, Ding … Flaubert!", fingen seine Augenbrauen an, vor Freude Dehnübungen zu machen. Er habe Madame Bovary ja dreimal gelesen, aber leider, leider nur auf Persisch, und als er das sagte, musste ich auch unbedingt gleich ganz zwangsweise wie ein Idiot daherstammeln, dass ich ja sowieso kein Persisch kann und niemals konnte und überhaupt auch nichts mehrfach lese, weil ich ohnehin schon nicht hinterher komme und er verstünde ja bestimmt. (Meine Sprache sagte, was meine Sätze nicht sagen konnten: Meine Verschlossenheit war mir schlagartig peinlich geworden.)
So redeten wir also über Bücher. Nach einer Weile bat ich ihn um Empfehlungen in Persischer Literatur und sofort nannte er mir Autor um Autor und von keinem hatte ich je gehört. Ich konnte die Namen leider nicht alle verstehen und wusste: die, die ich halbwegs verstehen konnte, würde ich mir niemals merken, aussichtslos. Ich dachte, vielleicht behalte ja eine grobe Erinnerung an den Laut der Namen und erinnere mich später wieder an ein oder zwei, wenn ich in der Wikipedia über den Artikel zur Persischen Literatur scrolle. Aber wie das so ist mit der Erinnerung, sie ist ein sehr eigenwilliges Tier und man begegnet ihm oft gerade dann nicht, wenn man nach ihm sucht, und manchmal doch wieder in einem Moment, in dem man es eben nicht erwartet hat und schon gar nicht gebrauchen kann.
Zu einem der Autoren nannte er zum Glück auch einen Titel: “Der Colonel” (und auch für dieses Wort wechselte er in einen französischen Akzent). Okay, dachte ich mir, wer auch immer, was auch immer, das kann man googlen, das nehm ich, komplett egal wovon es handelt, und auch wenn es ganz schlimm wird, ich muss das jetzt lesen. Normalerweise bin ich eine richtige Sau, was Empfehlungen angeht, und auch geschenkte Bücher lasse ich gerne eine halbe Ewigkeit liegen, bevor ich mich ihnen annähere. Aber hier, den Colonel, den brauchte ich unbedingt und möglichst bald.
Ich hätte natürlich gerne noch weiter mit dem Herrn im Bus geplaudert. Die Lage der Literatur (ach was, die Weltlage) schien mir in diesem Moment jedenfalls ganz hervorragend zu sein. Aber leider musste mein Gesprächspartner nach ein paar Stationen schon wieder aussteigen. Wir verabschiedeten uns mit einem glücklich irritierten Lächeln, beide noch überrascht und verunsichert von dem aus dem Nichts entstandenen Gespräch.
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Der Colonel also. Der Roman ist dann weniger heiter und leicht als die Umstände, durch die ich zu ihm gelangt bin. Aber er ist auch sehr, sehr gut.
Der Roman handelt von den Ereignissen rund um die iranische Revolution 1979, erzählt anhand der Person eines Offiziers, der in der Armee des Schahs Pahlavi gedient hatte, und seiner fünf Kinder. Er wurde von Mahmud Doulatabadi zum Großteil bereits in den späten 1980ern geschrieben, aber erst 2009 veröffentlicht. Im Iran kann er bis heute nicht publiziert werden, die deutsche Übersetzung, wie sie hier vorliegt, war seine Erstausgabe.
In dem Buch ist es oft regnerisch und sehr oft ist es Nacht: “Zur Nachtzeit werden die Verbrechen begangen. Zur Nachtzeit werden sie vorbereitet, zur Nachtzeit werden sie vertuscht. Die Täter fürchten das Tageslicht”. Die Handlung setzt in einer solchen tiefschwarzen Nacht damit ein, dass es beim Colonel an der Tür klingelt – und ein ungewöhnliches Klingeln reicht ihm schon für einen Schreck. Aber es kommt niemand, um ihn zu holen, es ist eigentlich noch schlimmer, er soll zum Friedhof und seine Tochter begraben, die unter zunächst nicht ganz eindeutigen Umständen zu Tode gekommen ist. Noch in dieser Nacht hat es zu geschehen und das Loch, das soll er selbst ausheben. Während er sich an diese demütigende Aufgabe macht, geht dem Colonel seine Geschichte, die Familiengeschichte und die Geschichte des Irans durch den Kopf, und über diesen immer wieder eingeschobenen und manchmal sprunghaft wechselnden Gedanken wird das meiste Geschehen erzählt.
Die Qualitäten des Romans kann man am besten daran sehen, welche Fehler er nicht macht. Es gibt keine romantische Verklärung eines unbescholtenen Individuums, das die Verhältnisse erlebt wie ein Außenstehender, alle sind involviert, niemand ist nur passiv. Der Colonel war selbst Militär des Schahs, und er gibt sich im Laufe des Romans als Mörder zu erkennen, aber er hat auch einmal den Befehl verweigert, als es um die Niederschlagung eines Aufstands ging. Vom neuen Regime wird er aus seinen Ämtern entlassen, aber er ist auch niemand, der die härtesten Repressionen erfahren würde. Für jedes seiner Kinder bedeutet die Revolution einen Umbruch in der Biographie, keines bleibt unberührt, aber für alle sieht er anders aus. Einige sind auf der Seite der Revolution, wenn auch mit unterschiedlichen Haltungen, in verschiedenen Strömungen und Parteien, und fast allen bekommt das nicht gut. Einer der Söhne lebt zurückgezogen im Keller des Hauses, traumatisiert von der Folter des Schah-Regimes; ein anderer wird Khomeini-Anhänger und stirbt im irakisch-iranischen Krieg; eine der Töchter ist mit einem Opportunisten verheiratet, der sie in eine konservative Frauenrolle drängt.
Die Darstellung der Gedankenwelt des Colonels führt zu einer teilweise nicht chronologischen Erzählweise: "Das Gedächtnis des Colonels war gestört, weil er seit geraumer Zeit nur noch in der Vergangenheit und an die Vergangenheit dachte. Das heißt, die Gedanken ließen ihm keine Zeit und keinen Raum mehr. In Wirklichkeit fürchtete er sich, über das, was sich vor seinen Augen abspielte, nachzudenken." Der Roman nimmt sich daher manchmal eher an wie eine Schautafel des Geschehens, eine Sammlung von ineinander geschobenen Einzelbildern, er liest sich deshalb auch nicht wie eine Abarbeitung historischer Daten und mehr wie eine Verdichtung von Erinnerungen, in denen die nationale Erfahrung konzentriert dargestellt wird. Doulatabadi zeigt, wie man ein historisches Ereignis erzählen kann, ohne in bildsprachlich illustrierte Historiographie abzudriften. Und er gibt ein Gefühl dafür, was es heißt, in einer Umbruchszeit mit der Wahl zwischen schlechten und nur anders schlechten Optionen konfrontiert zu sein.
Mahmud Doulatabadi: Der Colonel (erschienen im Unionsverlag)
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