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Literatur

Lob des Steinbruchs

Lob des Steinbruchs

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtSonntag, 15.11.2020


Zu drei nachgelassenen Erzählungen Roberto Bolaños:

"Cowboygräber"

Aus dem Spanischen übersetzt von Luis Ruby und Christian Hansen.

Ich habe das Gefühl, manche Kollegen scheinen davon auszugehen, dass man erst dann über ein Buch schreiben darf, wenn man das Gesamtwerk des Autors oder der Autorin kennt. Vielleicht ist das eine Einstellung, die man sich während eines Literaturwissenschaftsstudiums übergeworfen hat. Glücklicherweise habe ich niemals Literaturwissenschaft studiert. Aber auch einer meiner Professoren im Philosophiestudium, der von mir hoch geschätzte Alfred Schmidt betonte, dass man die Texte und Werke nicht als Steinbruch behandeln solle. 

Um aber ein jedes Leseerlebnis im Kontext eines Gesamtwerkes zu reflektieren, fehlt mir die Zeit und wahrscheinlich auch die Geduld, und zwar nicht nur die gewöhnliche ohnehin gedrängte Zeit des Tages, sondern auch die Lebenszeit. Das geht so weit, dass ich Lektüren schon einmal abbreche, nicht, weil sie mir nicht gefallen, sondern weil im Stauraum hinter der Lektüre die nächste winkt.

Ja, einige der mir liebsten Bücher habe ich nicht zu Ende gelesen, wie zum Beispiel „Fluss ohne Ufer“ von Jahnn, oder „Mason und Dixon“ von Thomas Pynchon, aber auch „2666“ von Roberto Bolaño; alle der genannten Bücher zählen indes zu den mir liebsten Romanen, und die Aussicht, die Lektüren einmal beenden zu können, zu den für mich verlockendsten Vorstellungen.

Darüber hinaus lese ich immer wieder Texte der hier beispielhaft genannten Autoren, die mir aufgrund ihrer Länge zumindest nicht die zeitliche Sicht auf die nächsten Texte verstellen, und zu einem dieser Texte oder besser Textsammlungen gehört das Buch „Cowboygräber“ von Roberto Bolaño, das jüngst im Hanser Verlag erschienen ist.

Es hat mir einige Nächte gerettet. Dazu wäre zu sagen, dass ich in letzter Zeit recht schlecht schlafe. Wahrscheinlich hängt das mit der mangelnden Bewegung in Coronazeiten zusammen. Ich schlafe also schlecht, es gelingt mir aber auch nicht, mich in der Nacht auf Lektüren zu konzentrieren, außer bei Büchern wie diesem, die einen eigenwilligen aber wunderbaren Sog entfalten. Sie lassen die Müdigkeit einfach verschwinden.

Die ersten beiden Erzählungen funktionieren zumal wie jeder von Alfred Schmidt so zu unrecht gescholtene Steinbruch. Aber das ist vielleicht ein Zug der Postmoderne, dass der Zusammenhalt des Textes nicht nach aristotelischen Maßgaben der Einheit der Erzählung in Ort und Zeit funktioniert. Dennoch gibt es ein Ereignis, dass die Erzählstränge bündelt, zumindest die der beiden ersten Erzählungen, und dieses Ereignis ist zunächst ein außerliterarisches. Es handelt sich um den faschistischen Militärputsch in Chile von 1973, in dessen Folge viele Chilenische Intellektuelle ins Exil gingen, so auch Bolaño.

Der Putsch steht also am Ende der ersten Erzählung und läutet die zweite ein. In beiden Fällen verwirbelt der Strudel der Ereignisse die Lebensbahnen der jeweiligen Protagonisten. Es handelt sich dabei um sich suchende junge männliche Schriftsteller.

Sicherlich gibt es in den Texten autofiktionale Momente, aber welche das sind, bleibt in meinen Augen Spekulation. Allerdings musste ich während der Lektüre an das Kind denken, das ich selbst 1973 war, und das voller Empörung über die Machenschaften Augusto Pinochets, des Anführers des Putsches, auf dem Balkon stand, über die Brüstung spuckte und sich vorstellte, die Aule träfe direkt auf die getönten Brillengläser des Faschisten.

Die aufgelöste oder faserige Struktur des Erzählens und die Profession des Protagonisten als Schriftsteller erlauben es jedenfalls, in den Gang der Geschichte grandiose Substorys einzuschreiben, wie zum Beispiel eine Science Fiction, in der ameisengroße, aber technisch überlegene Außerirdische zum Leidwesen des Farmers eine Farm im US-Amerikanischen Süden besetzen, die Administration mit ihren militärischen Mitteln ist machtlos.

Die dritte Geschichte des Buches „Komödie vom Schrecken von Frankreich“ hingegen ist durcherzählt und berichtet vom Anwerben einer surrealistischen Untergrundorganisation über einen plötzlich klingelnden öffentlichen Fernsprecher.

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Kommentare 2
  1. Annett Gröschner
    Annett Gröschner · vor 4 Jahren

    Ich war gerade dabei aufzuschreiben, wie toll ich den Abschnitt mit dem Kind auf dem Balkon finde, da sehe ich, dass Anne Hahn es schon genauso kommentiert hat. Das Ereignis hat auch mich politisiert. Der 11. September war 2001 in meinem politischen Kalender schon vergeben.

  2. Anne Hahn
    Anne Hahn · vor 4 Jahren

    wunderschön, dein autobiografischer moment im text - das kind von 1973!

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