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Quelle: (c) https://www.smithsonianmag.com/smart-news/19th-century-you-wouldnt-want-be-put-treadmill-180964716/
Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Wenn die Temperaturen im Frühjahr angenehmer werden, nimmt nicht nur der Fahrradverkehr in der Stadt zu, und man darf sich als Ganzjahresfahrer nicht über die Schönwetterradler ärgern, die beim Einschwenken vom Bürgersteig auf den Radweg nicht nach links gucken, sich unsicher schlingernd und vor allem sehr langsam vorwärtsbewegen und an Kreuzungen nicht durch die Lücke zwischen den Autos nach vorn fahren (angeblich schätzen viele Frauen ihre Körpermaße so pessimistisch ein, daß sie sich nicht zutrauen, durch solche Lücken zu passen.)
Auf der Bahn kommen dann die Schönwetterläufer dazu, die (meine) ungeschriebenen Gesetze nicht kennen, manche laufen nebeneinander auf den beiden Innenbahnen, man muß dann beim Überholen einen Umweg machen, in der Kurve einen besonders langen. Ich habe auch schon erlebt, daß drei nebeneinander liefen und plauderten, wobei sie es schafften, beim Laufen ihr Gehtempo noch zu unterbieten. Einmal habe ich den Läufer am Rand so einer Laufgruppe beim Überholen absichtlich ganz sachte an der Schulter touchiert, soviel Ärger hatte sich bei mir angestaut, das hatten sie aus mir gemacht, einen Stadion-Rüpel! Ich merke bei solchen Gelegenheiten, daß ich mich gar nicht in erster Linie über die blockierte Bahn ärgere, sondern über die Rücksichtslosigkeit mancher meiner Mitmenschen. Es ist aber wichtig, solchen Ärger nicht aufkommen zu lassen, statt das zuzulassen, sollte man sich über störende Mitläufer freuen, weil sie einem die Gelegenheit verschaffen, "unter Wettkampfbedingungen zu trainieren." (Zu dieser mentalen Volte rät Stéphane Franke in seinem Buch "Laufen". Man solle Störungen generell "als Trainingspartner wahrnehmen und begrüßen" und seine feindliche Haltung gegenüber den Bedingungen "partnerschaftlich gestalten". So denke man nicht "jetzt der steile Berg …", sondern "Guten Tag, lieber Berg!" Die notwendigen Adaptionen hätten einen Trainingseffekt und förderten "das Kompetenzerleben".)
Lästig sind auch Läufer, die man überholt, und die sich dann eine Weile an einen hängen und "am Hinterrad lutschen". Es ist erstaunlich, wieviel Energie es kostet, wenn auf diese Weise von hinten an einem gezogen wird, es ist ja ein rein psychischer Effekt. Er wird bereits in der Ilias beschrieben, wo Achilles zu Ehren des getöteten Patroklos Wettspiele veranstaltet. Aias führt "im Lauf der hurtigen Schenkel" vor Odysseus, der ihm dicht auf den Fersen ist: "Von hinten trat er die Spur mit den Füßen, eh' fallend der Sand sie bedeckte." Aias spürt seinen Verfolger, auch ohne sich umzudrehen: "Und an den Nacken ihm strömte den Hauch der edle Odysseus". Da sich kein edler Odysseus an mich hängt, sondern ein übergewichtiger, schwitzender Mann mit nacktem, behaartem Oberkörper, Pulsuhr und Brustgurt, wünschte ich, ich könnte wie Odysseus Athene um Hilfe bitten: "Leicht ihm schuf sie die Glieder, die Füß, und die Arme von oben." Zudem sorgt sie dafür, daß Aias strauchelt und kopfüber in die geschlachteten Opferrinder fällt: "Und mit dem Rinderkot ward Mund und Nas' ihm besudelt." So etwas gibt es leider nur in der Literatur.
Es gibt auch den Läufer, der genau in dem Moment seinen Ehrgeiz entdeckt und beschleunigt, wenn man ihn in der Kurve überholen will. Oder den Läufer, der ins Stadion kommt, den Blick auf seine Uhr heftet, während er von der Seite quer über die Bahnen zur Innenbahn geht, um langsam loszutrotten, so daß man fast auf ihn aufläuft. Es gibt den Läufer, der an einem vorbeizieht, weil er seinen Lauf mit einem Schlußspurt beendet, um im Ziel abzustoppen und auf der Innenbahn stehenzubleiben, um durchzuschnaufen. Es gibt den Läufer, der Intervalle läuft, also mehrere Runden auf der Innenbahn geht, um dann, von seiner Trainingsapp angespornt, eine halbe Runde zu sprinten. Es gibt Läufer, die ihre kleinen Kinder mitgebracht haben, die auf dem Fußballrasen Ball spielen und jedesmal dem Ball hinterherrennen, wenn er auf die Bahn kullert. Es gibt den Sportlehrer, der mich drei Runden vor dem Ende eines Laufs, bei dem ich auf Rekordkurs liege, auffordert, die Bahn freizugeben, weil seine Schulklasse eine Sportstunde hat. Manchmal ist das aber auch gar nicht nötig, da die Schüler im Startbereich bereits in einem Pulk rumstehen und es ihnen aus komplizierten psychologischen Gründen nicht möglich ist, darauf zu achten, ob gerade vielleicht noch jemand anderes die Anlage nutzt.
Die schlimmsten Läufe waren für mich lange Läufe zur Marathonvorbereitung, 30 Km auf der Bahn, das sind 75 Runden. Es muß eigentlich Folgen für den Laufstil haben, wenn man so lange Zeit Linkskurven läuft. (Es wäre schlauer gewesen, Herakles hätte eine Stadionrunde in Form einer 8 erfunden.) Ein Grund, diese Strecke auf der Bahn zu laufen, war das Getränkeproblem, ich konnte draußen keine 2-3 Liter mitschleppen und von Trink-Rucksäcken wußte ich noch nichts. Einmal hatte ich es im Park versucht, ich war auf dem Hinweg mit zwei 1 1/2 Liter-Flaschen Wasser (dazu 3 Bananen) in den Händen gelaufen, die ich hinter Bäumen ablegte und beim Trinken immer ein Stück weitertrug. Eine Flasche war schon leer, da war die andere plötzlich verschwunden. Eine Runde weiter fand ich den Grund: eine Reinigungskraft zog in der Dämmerung mit einem Handwagen rum und sammelte Müll ein, u.a. meinen Wasservorrat. Ich mußte den Lauf ohne Wasser fortsetzen, und das, wo der Lauf sowieso schon schlimmer war als der Marathon, auf den er mich vorbereiten sollte. Die abschließenden 20 Minuten Heimweg dauerten bestimmt die doppelte Zeit, ich taumelte durch Verkehr und Fußgänger wie Michael Douglas am Ende von "Running", einem Film von 1979, in dem ein Läufer nach einem Sturz im Olympischen Finale Stunden später, halbwegs wieder bei Bewußtsein, mit verrenkter Schulter den Lauf zu Ende bringen will, um kein DNF zu sein, während seine Kinder seine Bemühungen zu Hause live am Fernseher verfolgen und seine Frau, die sich eigentlich von ihm scheiden lassen wollte, da er sein Leben nicht auf die Reihe bekommt und nur immer laufen will, hinter der Ziellinie wartet. (In der Anfangssequenz dieses schön trashigen Films wird spürbar, warum es in den 70ern zu einer weltweiten Jogging-Revolution gekommen ist: ein Mann, dessen Leben ein Scherbenhaufen ist, der wieder wie ein Junggeselle in einem heruntergekommenen New Yorker Apartmenthotel haust, zieht sich die Laufschuhe an - schlichte Lederschuhe, mit noch völlig ungedämpften Sohlen-, stretcht sich kurz an der Treppe vor dem Haus und läuft zu einsetzender lovestorymäßiger Musik in der Morgendämmerung scheinbar anstrengungslos durch die regennassen, noch leeren Straßen von New York, als gehörten sie ihm - warum er das in Business Attire macht, der Schlips wird unterwegs zum Stirnband, erfahren wir später: er bringt vor der Arbeit seine Töchter zur Schule, die sich für ihn schämen, weil ihre Mitschüler sich wegen der Lauferei über ihn lustig machen. Die Wiederentdeckung des Laufens als Lust, die uns unser Körper jederzeit und an jedem Ort schenken kann, ist noch nicht so lange her. Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, aber es gab eine Zeit, in der Jogger einsame Freaks waren, die sich von Passanten und Autofahrern ständig Sprüche anhören mußten. Wenn man den Beginn von "Running" sieht, wäre man eigentlich gerne wieder ein einsamer Freak. "Nichts ist so edel, tief und irrational wie unser Laufen und nichts so wild und urtümlich." (Bernd Heinrich)
Nach allem, was man liest, hatte ich bei meinen langen Läufen vor allem mit meinem Gehirn zu kämpfen, dem größten leistungshemmenden Faktor. Ultraläufer laufen angeblich mit dem Kopf. Dieser TED-Vortragende behauptet, man müsse es schaffen, bei einem Ultralauf an nichts zu denken und nur im Moment zu bleiben, also beim jeweils nächsten Schritt. Er rät dazu, die Schritte mitzuzählen und von vorn zu beginnen, wenn sich ein Gedanke dazwischengedrängt habe, sein Rekord im Laufen ohne zu denken liege bei 2000 Schritten.
Im Stadion mußte ich keine Sorge haben, daß meine Flaschen eingesammelt wurden, ich hatte drei dabei, alle fünf Runden bückte ich mich nach einer, was mit der Zeit ziemlich mühsam ist, man sieht dabei so elegant aus wie eine Giraffe an der Wasserstelle. Ich trank, warf die Flasche eine halbe Runde weiter auf den Rasen und hatte zwei Runden später schon wieder Durst. Daher mein Eindruck, daß Trinken durstig macht, vielleicht ist es eine Wahrnehmungstäuschung, man trinkt immer zu spät und schafft es dann nicht mehr, den Durst zu löschen, weil das Wasser eine Zeit im Magen bleibt.
Meine jahrelange Routine im Stadion wurde erst vom Konjunkturpaket II empfindlich gestört, weil damals Geld zur Verfügung gestellt wurde, um die alte Baracke am Rand der Laufbahn durch ein luxuriöses Gebäude mit Toiletten und Umkleidekabinen zu ersetzen, in dem die Platzwarte, die ich vorher nie zu Gesicht bekommen hatte, nunmehr einen Logenplatz hatten. Mitten in einem wichtigen Trainingslauf (sie sind alle wichtig!) kam ein Platzwart aus seinem Kabuff und stellte sich mir in den Weg. Er klärte mich darüber auf, daß ich nicht auf der Innenbahn laufen dürfe, die sei zur Schonung des Belags gesperrt (weshalb er hier auch eine Bank aufgestellt hatte.) Ich nickte, lief die Gegengerade aber trotzdem auf der Innenbahn und nach ein paar Runden auch wieder die Gerade, die er im Blick hatte. Ich hoffte, daß er seine Pflicht getan hätte und mich in Ruhe ließ, aber er kam noch ein zweites Mal heraus und stoppte mich. Auch beim nächsten Lauf zwei Tage später hatte ich dasselbe Problem, diesmal mit seinem Kollegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Freizeitläufer das mit sich machen ließen und hoffte auf eine Revolution, aber alle ordneten sich unter und liefen brav auf der zweiten Bahn. Weil ich so verzweifelt war, schrieb ich an die Pressestelle der Senatsverwaltung für Sport:
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit mehr als 20 Jahren nutze ich die Laufbahn des Stadions in meinem Bezirk. Neuerdings wird man dort durch das Personal darauf hingewiesen, daß laut Stadionordnung ein Benutzen der Innenbahn nicht gestattet ist. Das sei schon immer so gewesen. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, daß das noch nie so gehalten wurde. Die Maßnahme scheint im Zusammenhang mit dem Ausbau des Umkleidegebäudes aus Mitteln des Konjunkturpakets II der Bundesregierung zu stehen. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, daß diese Verbesserung der Infrastruktur zu einer Verschlechterung der Nutzungsbedingungen führt. Die Laufanlage ist eine öffentliche Anlage und sollte dem Breitensport zur Verfügung stehen. Wenn man, wie ich, leistungsorientiert trainiert, ist man auf genau abgemessene Strecken angewiesen, andernfalls kann man auch im Park joggen. Die genaue Länge der Strecke läßt sich nur auf der Innenbahn ermitteln, da eine Umrechnung der Strecke auf den anderen Bahnen bei längeren Strecken sehr aufwendig wäre. Das Argument, daß der Belag der Innenbahn abgenutzt wird, kann ich nicht nachvollziehen, erstens weil das in den letzten 20 Jahren nicht der Fall war, und zweitens, weil das Problem dann auf der zweiten Bahn dasselbe ist. Man kann sogar mathematisch belegen, daß die Abnutzung der Bahnen 2-6 noch zunimmt, wenn alle Freizeitsportler sich auf fünf statt auf sechs Bahnen verteilen. Zudem stellt sich die Frage, wofür die Innenbahn geschont werden soll, da dort bis auf gelegentliche Schulsportfeste keine Leichtathletik-Wettkämpfe stattfinden. Ich halte die Praxis, die Breitensportler von der Innenbahn auszuschließen für undemokratisch und rechtswidrig, da es sich, wie gesagt, um eine öffentliche Anlage handelt, die mit Steuergeldern unterhalten wird. Ich bitte sie darum, hierzu Stellung zu nehmen, bzw. diese Regelung zu ändern,
mit freundlichen Grüßen,
Jochen Schmidt
Ich bekam eine erstaunlich freundliche und ausführliche Antwort eines Mitarbeiters der Senatsverwaltung mit dem Rat, mir eine "Läuferkarte" zu besorgen. Bis heute weiß ich nicht, was das ist, ich wich lieber in ein anderes Stadion aus, wo sich kein Platzwart für die Innenbahn zuständig fühlte. Nach 1-2 Jahren, als ich es wieder einmal auf meiner alten Bahn probierte, hatte sich das Problem erledigt, ich hoffe, ich habe etwas dazu beigetragen.
Manchmal denke ich, im Stadion im Kreis zu laufen, ist die philosophischste Art zu laufen, weil man das Laufen so von seinem eigentlichen Zweck, vorwärts zu kommen, reinigt. (Auf dem Laufband läuft man zwar auch auf der Stelle, was noch sinnloser wirkt, man muß aber laufen, um nicht nach hinten zu fallen. Insofern ist Laufen hier nicht zweckfrei, sondern ein Überlebensinstinkt. Die Vorgänger des Laufbands, Apparate zum Laufen auf der Stelle, sind übrigens im 19.Jahrhundert von Gefängnisreformern erfunden worden und eine gefürchtete Strafe gewesen, unter der zuletzt noch Oscar Wilde leiden mußte.)
Warum kommt es mir philosophisch vor, sich darin zu üben, ohne Ablenkungen auszukommen und sich dem reinen Schmerz der Existenz zu stellen? Weil man Philosoph sein muß, um es mit sich allein auszuhalten? Das fällt mir ausgesprochen schwer, Langeweile ist eine schlimme Folter, vielleicht, weil sie mich zwingt, mich mit meinen Dämonen zu beschäftigen. Otto Peltzer schreibt 1928 in "Das Trainingsbuch des Leichtathleten":
"Zum Langstreckentraining, insbesondere für die großen Straßenläufe, gehören dann im Winter wie im Sommer auch häufigere längere Gänge, möglichst durch langweilige Gegenden, aber mit bestimmtem Ziele und guter, flotter Gangart. Solche Gänge, die je nach der Spezialstrecke des Läufers 15 oder 30 Km weit sein müssen, tragen sehr dazu bei, daß einem später die zu bestreitende Laufstrecke nicht zu lang vorkommt."
Tatsächlich gehörte Gehen damals noch zum Trainingsprogramm des Langstreckenläufers, Paavo Nurmi bedauerte später, damit seine Zeit verloren zu haben (er wirkte auf seine Zeitgenossen geheimnisvoll und weise, weil er nie etwas sagte.) Werde ich, wenn ich noch länger im Kreis laufe, auch weise? Beginnt das Denken nicht, wenn es keine Ablenkung mehr gibt? Oder lenkt auch Denken vom Denken ab? Wieviele Runden müßte ich laufen, um meinen Geist zu leeren und mein Ego zu transzendieren? (Beim vom Guru Sri Chinmoy begründeten jährlichen Self-Transcendence-Race im New Yorker Stadtteil Queens, bei dem man immer um einen Häuserblock läuft, versuchen die Teilnehmer, in 51 Tagen eine Strecke von 4989 Kilometern zu schaffen. Ein langer Weg von sich weg.) Lehrt einen das Laufen im Stadion, bei dem man bei jeder Runde von vorn beginnt, daß es nicht auf den Fortschritt ankommt? Bis man verstanden hat, daß im Leben der Anfang und das Ende Fiktion sind und nur der nächste Schritt real? Müssen wir uns den Stadionläufer als glücklichen Menschen vorstellen?
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