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Hand auf's Herz: Wo verortet ihr, die ihr diesen Text eben aufgerufen habt, euch gesellschaftlich selbst? Welcher Klasse fühlt ihr euch zugehörig? Oder denkt ihr am Ende gar, in der aktuellen Bundesrepublik Deutschland gibt es keine sozialen Klassen mehr? Sichtbar sind sie vielleicht nicht, dennoch ganz eindeutig vorhanden, denn auch wenn die Chancen auf Bildung für alle gleichermaßen gewachsen sein mögen in den letzten Jahrzehnten, so sind die Zugänge zu vielen Bereichen immer noch sehr abhängig von Herkunft, Ansehen oder Verbindungen. Was offensichtlich viele Menschen daran hindert, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten voll ausspielen zu können, ist strukturell bedingt – das zeigen die 14 durchweg intensiven Texte*, die unter dem Titel "Klasse und Kampf" von Maria Barankow und Christian Baron herausgegeben wurden, eindringlich: Es geht um Herkunft und Scham, Privilegien, strukturelle Diskriminierung unterschiedlicher Art, den erfolgten Aufstieg und das meist damit verbundene Gefühl des Unbehagens, der Nicht-Zugehörigkeit im neuen Milieu ...
Alle Texte sind persönlich, offen und in keiner Weise larmoyant – ein Umstand, der mir immer wieder auffällt, wenn ich Texte von Menschen lese, die es geschafft haben, meist gegen Widerstände, andere Wege als die ihnen durch ihre Herkunft vorbestimmten, einzuschlagen. Es geht nicht darum, sich über Missstände zu beklagen, um Mitleid zu ernten, sondern darum, diese Missstände zu benennen und ans Licht zu bringen. Jeder der einzelnen Texte in "Klasse und Kampf" ist ein Beispiel dafür, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, um eine auch nur annähernd gerechte Lebenswelt zu schaffen. Ein Mittel der Sichtbarmachung ist das, was Francis Seecks Text als Aufruf aus dem Titel eines biografischen Buchs von Daniela Dröscher "Zeige deine Klasse" zieht und was gleichzeitig Programm von "Klasse und Kampf" ist. Seeck schreibt folgendes:
"Zeige deine Klasse, so lautet der Titel eines biografischen Buchs von Daniela Dröscher. Diesen Aufruf möchte ich teilen. Lasst uns unsere Klassengeschichten erzählen – in all ihrer Komplexität, mit all ihren Klischees, aber auch mit all jenen Momenten, die diese Klischees Lügen strafen. Wir sollten uns nicht spalten lassen in die guten und die schlechten Armen, die guten die schlechten Arbeiter*innen. Wir sollten uns nicht erzählen lassen, dass man die eigene Klassenherkunft, »weil man aufgestiegen« sei, nicht mehr spüre, und ihr nachspüren."
Eine Idee, die mir sehr gefällt, weil deren Methode etwas ungemein vereinendes besitzt und die derzeitige, immer weiter fortschreitende Spaltung unserer Gesellschaft vielleicht zumindest verlangsamen könnte. Erzählen wir uns voneinander, finden wir Gemeinsamkeiten, auch wenn wir vorher gedacht haben, dass dies nie möglich sei. Ich habe mich an vielen Stellen in den Texten wiedergefunden, manche Erfahrung teile ich komplett, andere kann ich aufgrund meiner in Teilen doch sehr privilegierten Lage nur anerkennen und ich denke, dieses Erkennen, dass wir trotz unserer Individualität doch vieles gemeinsam haben, ist ein Weg hin zu mehr Gerechtigkeit. Obwohl ich leider auch denke, dass wir nie zu einer 100%igen Chancengleichheit finden werden. Dennoch ist jedes bisschen mehr davon wert, dafür zu kämpfen.
Ich habe euch zu Beginn dieses Beitrags gefragt, welcher Klasse ihr euch zugehörig fühlt, weil es mich interessiert und weil ich eure Geschichten gerne hören würde. Meine eigene Einordnung ist diffus. Ich stamme nicht unbedingt aus dem typischen Arbeitermilieu. Mein Vater war Facharbeiter, ein sehr guter in seinem Beruf, der aufgrund seines Jahrgangs (1927 geboren) einiges an Schulbildung verpasst hat, meine Mutter entstammte einer Familie, die sich aus Bauern, Metzgern und Wirtsleuten – und damit aus recht unabhängigen und selbständigen Menschen zusammensetzte, die auch ein bisschen Grund ihr Eigen nennen konnten. Ich bin die Erste in der Familie mit Abitur und einem erfolgreich abgeschlossenen Studium. Ein Umstand, den meine Eltern immer viel höher hielten, als ich selbst – habe ich doch nicht das Gefühl, deshalb lebensfähiger zu sein. Meine Erziehung erfolgte im festen Glauben daran, dass Leistung ist, was zählt und sich auch auszahlt. Wir wohnten im Eigenheim, das das Facharbeitergehalt meines Vaters gut ermöglichte, fuhren aber so gut wie nie in den Urlaub, schon gar nicht ins fremdsprachige Ausland, nicht weil wir nicht gewollt hätten, sondern weil meine Eltern sich ohne weitere Sprachkenntnisse nicht zutrauten, dort zurechtzukommen. Südtirol war das höchste der Gefühle für uns als Familie. Mich selbst zog es viel und gerne in andere europäische Länder, was sicher auch der allgemeinen Haltung in unserer Familie entstammte, die jeden Menschen nach seinen Handlungen und nicht nach seiner Herkunft beurteilte. Und obwohl ich heute weiß, was ich kann, traue ich mir gleichzeitig nicht all das zu. Mir fehlt die Haltung, die so manchem meiner Mitschüler aus sehr wohlhabendem Haus zu eigen war. Ob das nun eine Charaktereigenschaft, Prägung oder eben der Ausdruck meiner Herkunft ist, kann ich tatsächlich nicht beurteilen.
Was ich aber sagen kann: "Klasse und Kampf" hat mir viele Autor:innen mit ihren wunderbar ehrlichen Texten nahe gebracht, Aha-Effekte bereit gehalten, Bestätigung gegeben, meinen Horizont erweitert und mich damit offener gemacht für die Lebensgeschichten anderer. Einzelne Texte herauszuheben, fällt mir schwer, weil jeder in seiner Eigenheit für sich spricht. Hatte ich einen gelesen, brauchte ich meist ein bisschen Zeit, um den nächsten zu beginnen, um die vielen Denkanstöße, die ich erhalten hatte, nicht ins Leere laufen oder überlagern zu lassen. Für all das bin ich sehr dankbar, auch weil mir das Lesen im Moment schwerfällt.
Die Texte sind so vielschichtig, wie es die Gründe sind, die dafür sorgen, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2022 noch keine Chancengleichheit herrscht. Dringende Leseempfehlung meinerseits mit dem Wunsch verbunden, dass wir alle unsere Klasse zeigen.
*Autor:innen in alphabetischer Reihenfolge: Christian Baron // Martin Becker // Bov Bjerg // Arno Frank // Lucy Fricke // Kübra Gümüşay // Schorsch Kamerun // Pinar Karabulut // Clemens Meyer // Katja Oskamp // Sharon Dodua Otoo // Francis Seeck // Anke Stelling // Olivia Wenzel
Eine Rezension von Brigitte von Freyberg, in der yourbook.shop-Community bekannt als Bris Lesestoff.
Quelle: Brigitte von Freyberg Bild: Ullstein Verlag yourbook.shop
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„… und das meist damit verbundene Gefühl des Unbehagens, der Nicht-Zugehörigkeit im neuen Milieu ...“.
Die Nicht-Zugehörigkeit empfand/empfinde ich nicht als Unbehagen. Es war anfangs ein nicht einordenbares Gefühl, in der Zwischenzeit ist sie ein mir rechtes und praktisches Distanzinstrument. Die Kumpanei der Gruppe, die Mikrokorruptionen der Seilschaften (derbe, direkte Form), der Netzwerke (subtile, sozial anerkannte und auch honorierte Form) fallen so eher auf.
Das Buch stellte ich im Zusammenhang mit anderen Werken kurz vor:
https://yourbook.shop/...