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Literatur

Kirio, der Erzähler und der Rezensent

Kirio, der Erzähler und der Rezensent

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtDienstag, 23.05.2017

Es ist ein klassischer Trick der erzählenden Literatur, dass am Anfang eines Romans der Erzähler einen Mythos entwirft, wie er zum Stoff seiner Erzählung gekommen ist. Damit weist er jede Verantwortung für den Gang der Geschichte von sich, behauptet, nur wiederzugeben, was ihm zugetragen wurde. Oder es handelt sich um eine Erzählung aus der Ich-Perspektive und der Erzähler ist in die Handlung als Handelnder verstrickt, erleidet sie gewissermaßen.

Zwei Helden eines Romans, also einmal der, der erzählt, und einmal der, der erzählt wird. Der Rezensent ist dann in der einfachen Lage, der erzählten Handlung eine Nacherzählung folgen zu lassen. Er kann das Beschriebene einordnen und auf Gehalt und Bedeutung hin abklopfen und die sprachlichen Mittel charakterisieren.

Es würde bei vorliegendem Buch also um Kirio gehen, der, wie es im Klappentext heißt, unbekümmert durch die französische Landschaft zieht und das Gute tut, ohne es zu wollen. Er vollbringt das ein oder andere Wunder, oder scheint es zu vollbringen, überlebt Fensterstürze und trifft in einer Nervenheilanstalt auf den französischen Staatspräsidenten. Furios und atemberaubend.

Nun ist es aber in Anne Webers Roman Kirio keinesfalls so, dass es sich um einen Icherzähler handelt, der auf irgendeine Weise in die Romanhandlung verstrickt wäre. Im Grunde ist der Erzähler der alte allwissende Erzähler. Aber er ist sich seines Wissens nicht sicher, und damit auch seiner selbst nicht.

"Wer ich bin?" So hebt der Roman an. "Vielleicht wird es sich im Laufe dieser Geschichte herausstellen."

Diese Unsicherheit setzt die Erzählung natürlich auf schwankenden Boden, und das überträgt sich auf den Leser. Wir lesen den Roman in einer Art Seemannsgang. Und das macht irre Spaß. Wir verfolgen also einem Erzähler auf seiner Suche nach sich selbst. Er ist körperlos, wie es scheint, und von keiner für die Protagonisten wahrnehmbaren Anwesenheit.

Und weil die Anfangsverwirrung noch nicht ausreicht, setzt Weber noch einen drauf:

Ein Kapitel des Romans heißt: "Wie Kirio zum Romanheld wurde". In diesem Kapitel wird beschrieben, dass Kirios zeitweiliger Vermieter, der sich eigentlich als Schriftsteller sieht, versucht, einen Roman zu beginnen. Und er beginnt ihn. Aus der im Grunde misslichen Situation, dass Kirio ihm die Miete schuldig bleibt, entwickelt er eine Erzählung die letztlich aus der Schuld ein Vermögen zaubert.

"Die Wahrheit ist, dass Boileau, ein schlaues Mittel gefunden hatte, doch noch seine Miete einzutreiben Für einen Mann mit seinem Geschäftssinn ist auch eine Romanfigur nichts anderes als ein willfähriger Angestellter, den man für sich arbeiten lässt: Er wird ihn zu den Obdachlosen und sogar bis in den Dschungel von Calais schicken, als sei er nicht der Kirio, den wir kennen, sondern ein beliebiger Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation."

Was gibt es also zu berichten und von wem?

Wenn der Autor schon tot ist, wie Barthes sagt, und der Erzähler verschwunden, wie Benjamin meint, woher kommt dann die ganze Literatur. Dass es sie gibt, scheint auf der Hand zu liegen, der Börsenverein veröffentlicht entsprechende Statistiken und die Buchmessen vermelden jährlich neue Besucherrekorde. Außerdem wimmelt es nur so auf den Long- und Shortlists von Texten, die prämiert werden wollen und sollen. Wo man auch hinschaut tagen Jurys, beugen sich über Texte, erstellen Reihenfolgen.

Es muss sie also geben, die Erzähler, die den Autoren dazu dienen, sich als Autoren zu etablieren. Wie seinerzeit die Grimms, die Märchen sammelnd durch die deutschen Lande zogen, und mit denen der Roman auch mehr oder weniger endet, und zwar mit folgendem Dialog der Gebrüder:

"Das Märchen kannst du einem anderen erzählen.

Ich erzähle es ja auch einem anderen. Bin ich vielleicht dafür bekannt, dir Märchen erzählt zu haben?

Ich dachte, du seist bekannt dafür, mit mir Märchen erzählt zu haben. Ich kenne die Geschichte, aber mit einem ganz anderen Ausgang."

Der Rezensent genießt seine Verwirrung und staunt.

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