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Literatur

Kindeswohl

Kindeswohl

Ulla Lenze
Schriftstellerin
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Ulla LenzeSamstag, 11.06.2016

Wie religiöse Gemeinschaften die Begriffe der Freiheit und Toleranz auf die Probe stellen, ist ein hochaktuelles Thema. Der britische Autor Ian McEwan inszeniert es in seinem Roman Kindeswohl (Diogenes 2015) an Fallbeispielen einer jüdisch orthodoxen Gemeinde und der Zeugen Jehovas, was die Lektüre von der Aufregung aktueller, emotional aufgeladener Debatten angenehm freihält und vielmehr die Zeitlosigkeit des Konflikts: weltliches Recht versus religiöse Gebote, hervorhebt. Dieser strahlt zugleich unaufdringlich auf gegenwärtige Debatten zurück.

Eröffnet wird der Roman von einer Eheszene, die trotz des klassischen Dilemmas – nach drei Jahrzehnten sehnt sich Jack, ein Geschichtsprofessor und „akademischer Bohemien“, nach einer Affäre mit einer Statistikerin – eine Überraschung bereithält: Er bittet seine Frau ganz aufrichtig um Erlaubnis. Fiona, Familienrichterin am High Court in London, erteilt sie ihm nicht. Nachdem er sich noch in derselben Nacht aus dem Haus schleicht, lässt sie am nächsten Tag das Schloss austauschen, ein, wie sie selber urteilt, „albernes Bubenstück (...), eins der Klischees beim Zusammenbruch von Ehen und eins, von dem jeder Anwalt seinem Mandanten abraten würde.“

Sie ist verletzt. Doch das Thema Verrat, das Ringen um Liebe und Würde spielt der Roman nun in zwei Richtungen durch: einmal in diesem bürgerlichen Mittelstandssetting, eines schon zur Hälfte gelebten Lebens, und einmal an der Nullstelle eines jungen Menschen, der sein Leben noch vor sich hat, dieses aber aus religiösem Gehorsam zu opfern bereit ist, auch um sich die Liebe der Gemeinschaft zu sichern (und in einer Mischung aus Märtyrer-Selbstheroisierung). Der knapp achtzehnjährige leukämiekranke Adam verweigert eine lebensrettende Bluttransfusion – nach dem Glauben der Zeugen Jehovas hat das reine Blut mehr Wert als das eigene Leben. Die Klinik will gegen seinen Willen handeln und muss sich dazu gerichtlich absichern. Hier kommt Fiona als Familienrichterin ins Spiel. Nach ihrem Besuch im Krankenhaus, obschon beeindruckt von Adams intellektueller Eigenständigkeit – sein Freiheitsbegriff erlaubt auch die Freiheit zur Unterwerfung unter religiöse, sogar lebensbedrohliche Pflichten – lässt sie zugunsten seines „Kindeswohls“ entscheiden und die Bluttransfusion genehmigen. Adams Eltern, die sich ebenfalls gegen die Transfusion ausgesprochen hatten, sind glücklich: Das Leben ihres Sohnes ist gerettet, zusätzlich ihre Glaubwürdigkeit als Zeugen Jehovas. Das ist der Wendepunkt. Adam schreibt Briefe an Fiona, er sucht nun bei ihr Halt und Orientierung. Aber aus professionellen Gründen lehnt Fiona diese Rolle ab. Und das Ganze endet nicht gut.

Bei Kindeswohl sind sich erstaunlich viele Rezensenten einig, dass die Rahmenhandlung, also die Ehekrise, überflüssig sei, diese obendrein flach erzählt werde, und in den Roman hineinimplantiert wirke. Mir schien vielmehr, dass das so unterschiedlich kontextualisierte Ringen um Liebe der Erzählung eine besondere Tiefe verleiht: Zum einen die Liebe, die Adam in seinem behüteten, aber isolierten Aufwachsen in der Sekte erfahren hat, zum anderen jene Liebe, die sich in einer Ehe entwickelt und plötzlich preisgegeben wird. Fiona wird auf einen fast kindlichen Status der Verzweiflung zurückgeworfen, ähnlich alternativlos wie Adam: Sie ist dem Schmerz hilflos ausgeliefert („Amputationsschmerz“). Dem jungen Adam kann sie zwar in der Rolle der Richterin, der Überinstanz, helfen, indem sie ihm eine Alternative zum reglementierten Weltbild der Sekte bietet. Aber in ihrer eigenen Welt bleibt sie die Verletzliche, eine Welt, die auch nach der reuevollen Rückkehr des Ehemanns keineswegs wieder im Lot ist. Diese prinzipielle Fragilität unserer Existenz, ob wir uns am Anfang befinden, in der Mitte oder am Ende, wird in diesem Roman auf starke Weise erfahrbar gemacht. 

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