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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Der englische Schriftsteller und Maler Edward Lear (1812-1888) war mir nur als Autor eines Gedichts ein Begriff, das in "Ping, Pang, Poch!" enthalten ist, einem von Elizabeth Shaw illustrierten und von Heinz Kahlau großartig übersetzten Band mit englischen Kindergedichten. (Hier gibt es eine Leseprobe). Das Gedicht ging so:
"Es war ein Mann mit einem Bart,
der sprach: wie ist mein Leben hart.
Zwei Eulen und ein Specht,
fünf Mäuse und ein Hecht,
die haben ihre Nester in meinem langen Bart."
Elizabeth Shaws Illustration findet man hier weiter unten im Katalog des Kinderbuchverlags (Seite 9)
Edward Lears Original mit Illustration gibt es hier
(Mein Lieblingsgedicht aus "Ping, Pang, Poch!" ist allerdings dieses:
"Herr Nett aß niemals Fett,
Frau Nett aß nie, was mager war.
Doch beide lebten wunderbar,
denn immer waren hinterher
die Teller alle leer.
Herr Nett aß nie, war mager war,
Frau Nett aß alles Fette.
Dann leckte sie die Teller ab
und ging vergnügt zu Bette")
(Interessant waren für mich hier immer die Lockenwickler, die Frau Nett nachts trug, und daß Herrn Netts Beine zu lang für das Bett waren und er sie deshalb anziehen mußte.)
Neben Bronchitis, Asthma, nachlassendem Augenlicht und Depressionen litt Lear sein Leben lang unter epileptischen Anfällen, für die er auch noch Schuldgefühle hatte. Vielleicht zum Trost schrieb er Nonsensverse und Limericks. Eigentlich war er aber, solange die Augen mitmachten, ein hervorragender Tierzeichner gewesen. Er widmete sich vor allem Vögeln, die er für die Zoological Society zeichnete. Schon mit 20 Jahren veröffentlichte er ein Buch mit 42 Papageien, die er, was damals noch ungewöhnlich war, größtenteils nach der Natur gezeichnet hatte. In "Fauna" findet sich ein von ihm gezeichneter Alexandersittich, wie man sie auch in Wiesbaden im Park sieht, wo sie frei leben. Hier sieht man eine Eule von Lear.
Der "Altberliner Verlag Lucie Groszer" hat zu DDR-Zeiten zahlreiche anspruchsvoll illustrierte Kinderbücher publiziert. Ein Grund dafür war, daß Papier, vor allem für einen nicht-staatlichen Verlag, kontingentiert war, und illustrierte Kinderbücher weniger Seiten enthielten, man konnte also mehr davon produzieren. 1979 verkaufte Lucie Groszer ihren Verlag an den Kinderbuchverlag Berlin, er hieß nun "Altberliner Verlag". 1991 ist hier in für alle ehemaligen DDR-Verlage schwierigen Zeiten "Die Geschichte von den vier kleinen Kindern, die rund um die Welt zogen" erschienen, ein Kinderbuch von Edward Lear, das erzähltechnisch seiner Zeit in unglaublicher Weise voraus war.
Vier Kinder, eine Katze und ein Hampelmann segeln in einem Bett um die Erde und schlafen nachts in einem Teekessel. Sie entdecken u.a.:
- Eine Insel aus Wasser, die ringsum von Land umgeben ist.
- Eine Insel voller Kalbskoteletts und Schokoladenplätzchen.
- Eine Insel mit unzähligen blauen Flaschen ohne Korken, in denen Flaschenfliegen leben, die alle eine winzige Kleiderbürste zwischen den Zähnen halten, und die sich von Austernsalat und weichgekochtem russischen Leder in Aspik ernähren
- Eine Sandbank mit 700 Krabben, die mit ihren abschraubbaren Zangen ein rotschimmerndes Wollknäuel zu entwirren versuchen, um sich daraus warme Fäustlinge zu stricken.
- Einen auf seinen Strünken wandelnden Blumenkohl, der zwei Gurken als Krücken benutzt.
- Eine Insel mit Gelbnasenaffen, denen Löcher voller Maulbeermarmelade gehören, die sie im Winter mit Schnirkelschneckensülze vermischt essen, auf chinesischem Silbergeschirr serviert, "das freilich in dieser Gegend überall wild wuchs."
Schließlich zerbeißt ein Seeungeheuer (oben im Bild) ihr Schiff, so daß sie ihre Reise an Land fortsetzen müssen. Zum Glück kreuzt ein Nashorn ihren Weg, auf dessen Rücken sie platznehmen, um auf dem Hintern ein Feuer zu machen und Geflügel zu kochen. Nach knapp achtzehn Wochen kommen sie wohlbehalten wieder nach Hause:
"Dort wurden sie von ihren staunenden Verwandten mit wilder Freude und Mißgunst empfangen. Deshalb beschlossen sie, ihre restlichen Reisepläne späterhin bei günstigerer Gelegenheit auszuführen. Als Ausdruck erheblicher Anhänglichkeit gaben sie dem alten Nashorn den Gnadenstoß. Sie stopften es aus und setzten es als unübersehbaren Fußabtreter vor die Tür ihres Vaterhauses."
Die Geschichte scheint in der Tradition mittelalterlicher Reisebeschreibungen zu stehen, bei denen den Reisenden Phantasiewesen begegnen, wie einbeinige Menschen, die sich auf den Rücken legen, um sich mit ihrem Fuß Schatten zu spenden. Liest man den Text vor, gerät man schnell außer Atem, weil die Sätze so rastlos vorwärts jagen und der Erzähler sich im selben Satz manchmal gleich mehrmals widerspricht. (Die Kinder buttern Salzwasser in einem Butterfaß: "Sie hofften, daß es sich in Butter verwandeln würde, was selten, aber manchmal beinahe vorkam.") Die Schreibweise erinnert mich an die Écriture automatique der Surrealisten. Der Nonsens befreit das Denken von den Zwängen der Logik und die Handlung von schwerfälligen Rücksichten auf Wahrscheinlichkeit. Es ist eine Übung im Loslassen. Der Autor folgt den Wörtern und guckt nach, wohin sie ihn führen und was sich an Sinn dort befindet. Am Ende wundert er sich, was er im Kopf hatte, ohne es zu ahnen und mußte sich nicht einmal etwas ausdenken, sondern nur das Denken ausschalten, was vielleicht noch schwerer ist. Es genügt ja nicht, das Denken auszuschalten, das könnte auch ein Computer übernehmen, eine geheime Kontrollinstanz beurteilt trotzdem die Qualität und Originalität des Nonsens, verwirft das eine und entscheidet sich für das andere. Die scheinbar frei improvisierten Zwischentexte auf Helge Schneiders früheren Platten waren auf unnachahmliche Weise hochartifiziell, sonst wären sie nicht so komisch gewesen. Es gibt besseren und schlechteren Nonsens, Sinnlosigkeit als Kriterium reicht nicht, Unsinn wird sofort langweilig, wenn er bemüht oder beliebig ist.
Das Buch ist von Klaus Ensikat illustriert (interessanterweise ist im selben Jahr eine Ausgabe mit Illustrationen von Axel Scheffler erschienen, sein erstes in Deutschland publiziertes Buch), ich habe es wahrscheinlich von meinem Vater übernommen, der schon immer Klaus-Ensikat-Bücher gesammelt hat. Ensikats Kunst war für viele Buchliebhaber in der DDR schon deshalb so attraktiv, weil sie sich in einem Land, das den Anspruch hatte, ohne Traditionen auszukommen und alles neu zu erfinden, bzw. aus der Sowjetunion zu übernehmen, an wesentlich älteren Vorbildern zu orientieren schien. Ensikats Sorgfalt und handwerkliche Meisterschaft war im Land der Ersatzstoffe, Materialeinsparungen und Billiglösungen etwas Besonderes (aber gerade in der Buchproduktion, im Vergleich zu heute, gar nicht selten. Auch Ensikat hat als Buchkünstler viele Bücher komplett durchgestaltet). In dieser Qualität und mit dieser aufwendigen Technik (aquarellierte Schraffur-Federzeichnungen. Einen Computer verwendet er bis heute nicht, da er nicht weiß, wie man diese Geräte einschaltet) hat Ensikat unzählige Bücher illustriert, man weiß nicht, wie er das schaffen kann. Zu den bekanntesten zählen vielleicht die Kinderbücher mit Texten von Peter Hacks, oder "Der kleine Hobbit", der bereits 1971 (!) in der DDR erschienen ist.
Im Lear-Buch zieht er alle Register und lebt seine Vorliebe für komplizierte Apparaturen aus, zeichnet mit Schraffurtechnik stürmische See und nebenbei ein ganzes Bestiarium mit Kakadus, Mäusen, Gelbnasenaffen, fliegenden Fischen, Krabben, einer Katze, einem Nashorn, Hasen, Fliegen, Bachstelzen. Auf dem vorderen und hinteren Vorsatzblatt ist ein Kinderzimmer einmal im aufgeräumten Zustand und einmal vollkommen chaotisch zu sehen, sämtliche Gegenstände (von denen einige im Buch aufgetaucht sind, offenbar haben sie die Phantasie der Kinder angeregt) sind zerstört und liegen kreuz und quer, hier ist wirklich nach Herzenslust getobt, ja gewütet worden. Die beiden Bilder laden zum genauen Vergleich ein, so wie es sich lohnt, das Buch immer wieder anzusehen (was beim wiederholten Vorlesen weniger gelungener Kinderbücher zur Qual werden kann), man entdeckt zwei Büsten auf einem Schrank, die den Gesichtsausdruck wechseln, als das Bett der Kinder kentert, man entdeckt, daß der Ofen, in dem eines der Kinder in dem Moment sitzt, mit dem Ofenrohr am Himmel befestigt ist wie an einer Wand, mitten im Buch steht das Kinderzimmer unter Wasser (offenbar ein häufiges Motiv, es kommt auch in "Lucie, der Schrecken der Straße" vor). Bei Ensikat ist jeder Quadratzentimeter ausgearbeitet und mit sorgfältig recherchierten Details gefüllt, Zoologie, Technikgeschichte, Gerätschaften, Architektur, Kleidung, er liefert immer viel mehr als im Text steht und scheint sich seit Jahrzehnten nach und nach die gesamte bekannte Dingwelt anzueignen. (Einen Überblick über sein Schaffen aus DDR-Zeiten gibt es in Peter Michael "Buchbilder. Klaus Ensikat und seine Illustrationen", das 1989 erschienen ist.)
Aus dem Altberliner Verlag Lucie Groszer besitze ich zwei weitere Bände (im gleichen, charakteristischen, Großquadrat-Format wie der Lear), die ich als Kind etwas gruslig fand, aber offenbar intensiv betrachtet habe, denn sie haben einen hohen Madeleine-Faktor für mich. Nehme ich jetzt "Die Hochzeit des Pfaus" von 1975 in die Hand (nach einem sorbischen Märchen), fällt mir sofort die großartige Typographie auf, Text und Illustrationen sind sorgfältig arrangiert. Neuere Bilderbücher wirken auf mich oft billig gemacht, weil man den Eindruck hat, der Text sei mit einem Photoshop-Layer hineinmontiert. Bei "Die Hochzeit des Pfaus" hat mich als Kind irritiert, daß die Tiere alle Kleider tragen, und dann auch noch seltsam altmodische aus der Goethe-Zeit (?). Ich weiß, daß mich die extremen Posen und die seltsam realistische Physiognomie der Tiere als Kind eher verstört haben, z.B. der Froschchor, der mit aufgeblähten Schallblasen 99 Strophen eines Lieds singt, die alle "Quak" lauten. Ich zog Bücher vor, die eindeutiger als Kinderbücher ausgewiesen waren. Aber dafür ist mir das Buch noch in Erinnerung.
Von 1976 stammte "Kieselchen", diesmal nach einem spanischen Motiv. Es geht um die Maus Kieselchen, die an jedem Bräutigam etwas auszusetzen hat, bis sie sich für einen Kater entscheidet, weil er so schön miaut. (Der Kater trägt eine Torero-Uniform und sitzt auf einem wundervollen Moped mir Enduro-Reifen und gekürztem Schutzblech.) Als die Maus sich an der Nase verletzt, leckt der Kater das Blut ab: "Und wie er so leckte und leckte, bekam er Appetit, und haps! hatte er das Mäuschen verschluckt." Nur der Mauseschwanz guckt ihm noch aus dem Maul. Mit Anachronismen wie dem Moped, arbeitet Ensikat gerne, was sein Anknüpfen an eine viel ältere Bildsprache subtil unterläuft. Beim Lear-Buch trägt ein Junge einen Matrosenanzug, das Mädchen Hut und Rüschenbluse und ein Junge, was mich jedes Mal freut, wenn ich es sehe, blaue "Essengeldturnschuhe" den Trabi der DDR-Sportschuhproduktion.
Wie es dem Altberliner Verlag Lucie Groszer ergangen ist, kann man hier nachlesen. Nach der Wende kauften Mitarbeiter ihn von der PDS zurück, was von der Treuhandanstalt rückwirkend nicht genehmigt wurde. Heute gibt es ihn nicht mehr.
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