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Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).
Sonnabendabend: Selbstversuch mit Knausgård im Öffentlichen Nahverkehr als Teil 3 dieses kleinen Lektüre-Protokolls. Das Buch ist denkbar dick für die kurze Fahrt mit der U2 vom Rosa-Luxemburg-Platz bis zum Wittenbergplatz, aber ich trage den Ziegelstein offen mit mir rum. Dazu das kleine To Be Perfectly Frank-Notizbüchlein immer im Anschlag, das mir Eilé geschenkt hat. Keine Ahnung, was passieren soll.
Aus der Distanz fühle ich mich wie früher, als ich irgendwelche wildfremden Leser in der Stadt für meine Reading-Berlin-Kolumne im Tagesspiegel fotografierte und interviewte, aber das ist lange vorbei. Oder ich könnte auch an eine Art performative Lektüre denken wie in Carrères „Russischem Roman“, dessen Zentrum eine Masturbationsanleitung im Zug für seine Freundin bildet („Mutige lesen es im Zug“, könnte die Verlagswerbung lauten). Aber natürlich fotografiere ich mich ebenso wenig selbst in der U-Bahn wie ich auch nicht anfange, mir dort mit „Kämpfen“ im Schoss einen runterzuholen.
Stattdessen überlege ich kurz, ob ich schwarzfahren soll, ziehe mir dann aber lieber ein Ticket für 2,80. Weil ich so selten mit den Öffentlichen unterwegs bin, fühlt es sich ungewohnt oder gleich super bewusst an, unter der Volksbühne – „Mind the gap between platform and train“ – circa in der Zugmitte in die U2 einzusteigen. Es ist nicht besonders voll und ich setze mich auf einen Zweierplatz, hol die Lesebrille raus und fange gleich mit Seite 305 an, auf der ich inzwischen bin.
Karl Ove bringt Vanja, Heidi und John in den Kindergarten. Kommt Mama bald wieder? Ja, Mama kommt bald wieder. Dann eine kurze Straßenbeschreibung, wie er zum Supermarkt weitergeht, mit der schönen Formulierung des Sommers „als Meister der Jahreszeiten“. Es stimmt ja nicht, dass Knausgård den Blick auf die Welt auf sich selbst verengt, eher im Gegenteil, er öffnet die Welt um uns rum für seine Leser wieder neu. Am Morgen gab es eine Rachel Cusk-Rezension in der Berliner Zeitung, in der die Rezensentin ziemlich blöd Cusk gegen Knausgård ausspielte, mit dem Manspreading-Vorwurf, er würde typisch männlich nur über sich selbst schreiben, während Cusk sich weiblich weise zurücknähme. Warum kann man nicht beide super Autorinnen nebeneinander stehen lassen: Cusk hat eine scharfe Beobachtungsgabe, die sie bewusst nicht auf ihre Beobachterin zurück anwendet und deren Blick auf Mitmenschen und Welt dennoch genug über sie erzählt: etwas Versehrtes, Beschädigtes mischt sich in ihre Beobachtungen und macht sie so überhaupt erst erträglich.
Knausgård dagegen schreibt über ein Selbst in der Welt, skeptisch und achtsam um Wege bemüht, wie man es miteinander aushalten kann. Mehr kann man von Literatur heute nicht verlangen. Denn es reicht ja schon, an einem normalen Tag durch Berlin zu gehen – Gesichter hinter Smartphones gehen nicht aus dem Weg, Mütter mit Kinderwagen verteidigen ihren Bürgersteig, Alkis grölen im Park, behelmte Radfahrer pochen auf Vorfahrt, Autofahrer haben Angst vor Augenkontakt oder Geschwindigkeitsverlust … und jeder ist für sich und hat natürlich kein Problem mit seinem Selbst – um zu merken, wie gut Knausgård sein Thema gewählt hat.
Vier Plätze neben mir im U-Bahnwagen telefoniert ein cool aussehendes Mädchen in einer ganz anders klingenden Stimme mit ihrer Freundin und wünscht ihr einen schönen Abend. Das Mädchen trägt schwarze Nike-Sneaker. Knausgård ist inzwischen im Hemköp angekommen und überlegt, welchen Käse er kaufen soll. Ich muss – Stichwort Sneaker – daran denken, wie P. und ich heute Morgen mit unserem Wocheneinkauf vom REWE kamen und darüber diskutierten, ob man noch „Turnschuhe“ sagen kann.
In der FAZ hatte Jan Wagner ein englisches Gedicht („and then“) über den vom deutschen Todespiloten Andreas Lubitz herbeigeführten Germanwings-Absturz übersetzt („und dann“), von der Redaktion als das „neue Werk des Büchnerpreisträgers“ annonciert. Man hatte das englische Original und die deutsche Übersetzung nebeneinander abgedruckt, und so konnte man sehen, dass Wagner „bright holidays“ (aus dem die Flugreisenden aus Barcelona zurückkehrten) mit „lichtem Urlaub“ und „trainers“ (die sich im Debris fanden) tatsächlich mit „Turnschuhen“ übersetzt gehabt hatte. P. fand „Turnschuhe“ vollkommen in Ordnung, ich fand das eine geriatrische Turnvater-Jahn-Übersetzung.
Wenn ich mich mit etwas auskenne, sind das „Turnschuhe“. Das mag man als 17-Jährigen-Wissen einer Romanfigur abtun, aber tatsächlich würde ich mir so etwas wie eine Soziologie der Stadt in Sneakern zutrauen:
Asics-Tiger-Trägerinnen von Friedrichshain, die einen irgendwie independent-cineastischen Blick auf ihr Leben haben und sich in der Tradition von Uma Thurman aus „Kill Bill“ sehen. Nike Air Max-Asis aus Kreuzberg und Marzahn, mit denen sich meist Mädchen, Türken oder ostdeutsche Nazis ein bisschen amerikanisches Markenvertrauen in ihre Existenz holen (... das sind natürlich nicht nur Asis: aber irgendwas an dem Geschäftsgebaren von Good old Google-Facebook-Trump-America wurde natürlich auch von Phil Knight mitbegründet und scheint nicht selten auf die Träger abzufärben...). Ultra-Boost-Fashionisten von Mitte, die gemeinsam mit Kanye West den biographischen Bruch von Nike zu Adidas riskiert haben. Technokratische New Balance-Radfahrer und Jogger aus Tiergarten. Superhippe Veja-Träger aus Neukölln, gefangen zwischen Galerie und Agentur. Oder Leute in Skechers, die denken, sie würden fernab des Markenwahns preisbewusster durchs Leben gehen (dabei sind die auch gar nicht so billig!) und also auch bei Lidl und Aldi einkaufen. Und natürlich ganz zu schweigen von den harten Deichmann-Fällen in Victorys, die man lieber nicht beschreiben möchte (weil das SPD-Wahlkampf-Narrativ wäre und jeden Sneaker-Soziologen als Schnösel disqualifizieren würde)...
Knausgård kauft unterdessen weiter ein, und es ist schwer sich auf seine Einkaufsliste zu konzentrieren, weil der Waggon so rüttelt. Tomaten, Gurken, den teuren Norvegia-Käse, weil er Gäste bewirten und eben nicht sparen will. Ich bin selbst unterwegs zu einem Abendessen, ein Freund feiert seinen Geburtstag nach, ich schenke ihm Jochen Schmidts Fußballfoto-Fibel „Ballverliebt“ und darf nicht vergessen, gleich noch einen Sixpacks Beck’s bei der Tankstelle zu besorgen.
An der Brottheke überfällt Karl Ove die Erinnerung an früher: „Damals gab es nicht so viele Brotsorten, mir fielen unmittelbar nur fünf ein: Kneipp-Brot, Graubrot, Wittenberger aus Roggenmehl…“ Unterwegs zum Wittenbergplatz kann ich kaum glauben, dass er sich tatsächlich gerade an Wittenberger Brot erinnert hat. Ich überlege kurz, ob ich das meinen Mitreisenden laut vorlesen soll.
Höhe Potsdamer Platz gibt es in meinem Abteil nur noch eine andere Buch-Leserin. Sie sitzt ein paar Sitzbänke weiter und liest ein Taschenbuch, auf dessen Cover „VOLUME 2: Design & Fiction“ steht. Ich notiere mir das leicht manisch in mein Notizbüchlein und lese dann weiter.
„Ich war zu einem Mann der alten Zeit geworden“, denkt Karl Ove jedenfalls angesichts der Brot-Thematik auf Seite 307 und kauft dann noch auf dem Weg zur Milchabteilung eine Packung Kaffee und eine Anderthalbliterflasche Pepsi Max.
„Wo bist du?“ – P. ruft an. Ich sage, Mendelssohn-Bartholdy-Park und frage sie, wo sie am Wittenbergplatz mit dem Auto stehen wird, um mich einzusammeln. Als ich auflege, zeigt mein Handy die Zeit an, es ist 8:38 pm. Die U-Bahn fährt jetzt raus aus dem Tunnel, overground. Ich blicke vom Buch auf in den schönen Abendhimmel über der Stadt, in dem ein paar Wolken stehen, darunter das Grün der Bäume einer Brachfläche. Für mehr Beschreibung fehlt die Zeit, weil die U-Bahn dann schon an den Gewerbehöfen Bülowbogen vorbeirattert.
Dann geht es wieder underground. Knausgård denkt im Supermarkt an seinen Vater, der nur ein paar Mal im Jahr bei den großen Ketten im großen Stil auf Vorrat einkaufte – weil er dort „den großen Mann spielen konnte“, vielleicht aber auch nur „Sicherheit durch das Hamstern und Lagern“ suchte. Für unser Abendessen gleich habe ich außerdem auch noch die Re-Release-CD von Prince‘ „Purple Rain“ dabei, auf die ich durch Jimmy Fellons Latenight-Show aufmerksam geworden bin und die ich mir am Nachmittag extra noch bei Dussmann besorgt hatte, weil wir alle große Prince-Fans sind.
Die ganze Show hindurch ließ Jimmy Fellon seine Studioband The Roots die Prince-Songs nachspielen und Questlove meinte über das Schlagzeug von „When doves cry“, das sei ja gerade das Revolutionäre an Prince gewesen: es wäre gar keine richtige Musik, nur dieser trockene Beat gewesen. Ich erinnere mich, wie ich den Song damals immer wieder gehört habe und wie sich speziell die Zeilen über seinen Vater und seine Mutter ins Gedächtnis eingebrannt haben: „… maybe I’m just too demanding, maybe I’m just like my father. Two-three-four. Maybe I’m just like my mother, she’s never satisfied.“ Fasst das nicht den ganzen Knausgård zusammen?
Ankunft Wittenbergplatz: ich lege das Lesebändchen bei Seite 308 rein, renne raus aus der U-Bahnstation und draußen ist die ganze Welt plötzlich so nah, weil ich noch meine Lesebrille auf hab.
Quelle: Süddeutsche.de GmbH, Munich, Germany Bild: obs sueddeutsche.de
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