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Literatur

Kafka. Ich mach mit!

Kafka. Ich mach mit!

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtSamstag, 30.01.2016

Die Lektüre der 850 Seiten dicken Roland-Barthes-Biographie habe ich erst einmal unterbrochen, um – jetzt, wo ich weiß, was "Idiorrhythmie" ist – zur Erholung von "Semiologie", "Signifikanz" und "le neutre" erst einmal den ersten von drei Bänden der Kafka-Biographie von Reiner Stach zu lesen ("Kafka. Die frühen Jahre"). Stach schreibt aus solch einer profunden Kenntnis von Kafka, Kafkas Zeit, der Qualen des Schreibprozesses, und überhaupt der menschlichen Seele, daß er Germanistenprosa überhaupt nicht nötig hat und ein mitreißendes, souveränes, kluges und beglückend stilsiches Buch geschrieben hat. Wie hat sich das Prag entwickelt, das wir mit Kafka identifizieren? Wie schwierig war das Leben für Juden dort, was steckte hinter den nationalistischen Konflikten zwischen Tschechen und Deutschen (unter denen vor allem die Juden immer wieder zu leiden hatten), warum war die staatliche Arbeiter-Unfallversicherung in Österreich so eine große soziale Errungenschaft, die von den "Arbeitgebern" jahrzehntelang heftig bekämpft wurde. Biographien sind eigentlich Romane, die es nicht zugeben wollen, schreibt Roland Barthes und bleibt diesem Genre gegenüber zu Recht höchst skeptisch (um seine eigenen "Biographeme" auf faszinierende Art zum Thema seiner wissenschaftlichen Texte zu machen). Wird Kafkas Leben hier auf 1500 Seiten als Roman erzählt? Jedenfalls verfolgt man mit Spannung, wie er zu seinen Texten kommt, die ja schon da sind, wir wissen es, nur er weiß es noch nicht, ahnt es aber lange vor ihrer Entstehung. Als Fan will man natürlich alles über ihn wissen. Daß er notorisch unpünktlich war, sein Essen "gefletchert" hat (jeden Bissen endlos kauen), morgens "müllerte" (Nacktgymnastik am offenen Fenster, nach den Büchern des dänischen Fitnesspioniers Johann Peder Müller), ziemlich unmusikalisch war (wie übrigens auch Freud), als Anhänger jeglicher Naturheilverfahren wahrscheinlich baumwollene Reformunterwäsche trug (die die "Ausdünstung von 'Selbstgiften'" förderte), daß seine Harnentleerung "gleichmäßig" war und sein Urin "buttergelb", daß man auf den Zimmern des Sanatoriums Erlenbach am Zürichsee für eine stärkere Glühbirne an der Decke Aufpreis bezahlte, daß er in Prag einmal eine Audienz bei Rudolf Steiner hatte (der zwei Liter Mandelmilch am Tag trank), daß er ohne Scham Bordells aufsuchte, ein begeisterter Schwimmer, Freund vom Sonnenbaden und gelegentlich sogar Motorradfahrer war. Wie seine Familie funktioniert hat, welche Rolle Kafkas Freunde für ihn spielten, wie er zu seiner Stellung in der Arbeiter-Unfallversicherung gekommen ist, alles kann Stach erklären, nur nicht wie aus dem ängstlichen Kind einer kunstfeindlichen Familie, in einer höchst unsicheren sozialen Umgebung, das seine Provinz selten verlassen hat, ein Jahrtausendschriftsteller wird, von dem eigentlich jede schriftliche Äußerung Literatur ist. Das kann man so wenig erklären, wie daß aus Molekülen Leben entsteht.

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